Mit einer Erwerbstätigenversicherung haben vergangene Woche Volkssolidarität, Sozialverband Deutschland und Deutscher Gewerkschaftsbund ein neues Modell zur Altersvorsorge vorgeschlagen. Die Verbände wollen langfristig alle Berufstätigen in die gesetzliche Rentenversicherung einbeziehen: In einem ersten Schritt geringfügig Beschäftigte, Politiker und Selbstständige ohne Pflichtversicherung - später auch Beamte und Freiberufler mit einer berufsständischen Altersversorgung. So soll mehr soziale Sicherung geschaffen, die Solidargemeinschaft gestärkt und dem Strukturwandel der Arbeitswelt Rechnung getragen werden. Betroffen von der Neuregelung wären zunächst vor allem schätzungsweise drei Millionen Selbstständige und rund 6,5 Millionen geringfügig Beschäftigte.
Die Erwerbstätigenversicherung begegnet dem Problem, dass immer mehr unstete Erwerbsverläufe zu Sicherungslücken im Alter führen, denn prekäre Beschäftigung oder auch häufigere Wechsel zwischen versicherungspflichtigem Arbeitnehmerstatus, Phasen der Arbeitslosigkeit und unzureichend gesicherte Selbstständigkeit nehmen zu. Andererseits sind immer noch verschiedene - meist besser verdienende - Berufsgruppen außerhalb des Solidarsystems abgesichert. Eine erweiterte Pflichtversicherung macht durchaus Sinn, um drohender Altersarmut vorzubeugen wie auch - zumindest mittelfristig - um der Rentenkasse zusätzliche Beitragseinnahmen zu verschaffen.
Das alleine wird aber nicht reichen, denn für sich genommen ist die Erwerbstätigenversicherung noch kein Gegenkonzept zur schwarz-rot-grün-gelben Demontagepolitik. Das Projekt versäumt es, politisch eine Rückkehr zum Ziel der Lebensstandard sichernden gesetzlichen Rente einzufordern. Die nämlich wurde 2001 unter Rot-Grün endgültig aufgegeben und durch das Dogma der Beitragssatzstabilität ersetzt. Bis dahin galt: Wer erwerbslebenslang der Versicherung angehört hat (unterstellt werden 45 Versicherungsjahre), der sollte im Alter ein Nettorentenniveau erreichen, das etwa 70 Prozent seines auf die Gegenwart hochgerechneten durchschnittlichen Erwerbseinkommens entsprach. Seither ist dagegen festgeschrieben, dass der Beitragssatz bis zum Jahre 2030 die Marke von 22 Prozent nicht überschreiten darf. Wer jedoch den paritätischen Beitrag deckelt, kommt nicht umhin, auf der Leistungsseite deutlich zu kürzen; so geschehen durch "Riester-" und "Schmidt-Reform".
Was aber könnte demjenigen die Schließung von Versicherungslücken nutzen, der mit seiner Rente am Ende ohnehin unterhalb der Fürsorge landen wird? Dem Single, der stets zwei Drittel des Durchschnitts verdient hat, reichten bislang 38 Beitragsjahre, um mit seiner Nettorente oberhalb der Sozialhilfe zu liegen; nach den seitherigen Reformorgien wird er im Jahre 2030 bereits 48 Jahre benötigen.
Das Beitragssatzdogma muss auch als Begründung für die "Rente mit 67" herhalten, die in sechs Wochen vom Bundestag beschlossen werden soll; auch sie entlaste die jüngere Generation, heißt es. Ökonomisches Grundwissen wird in der politischen Zweckpropaganda ersetzt durch vermeintlich gesundes Alltagsempfinden: "Wir leben länger, arbeiten aber nicht länger, sondern insgesamt eher kürzer. Und da muss man gar nicht Mathematiker sein, da reicht halt Volksschule Sauerland, um zu wissen: Kann nich´ hinhauen." (Franz Müntefering) - Schaut man allerdings ins Finanztableau des Gesetzentwurfs, so fasst man sich an den Kopf. Die "deutliche" Entlastung der Jüngeren beträgt hiernach im Jahre 2030 ganze 0,5 Beitragspunkte - also je ein verschwindend geringer Viertelprozentpunkt für Arbeitgeber und Arbeitnehmer! Nach heutigen Werten sind das zusammen fünf Milliarden Euro pro Jahr. Dafür werden die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt beachtlich sein. Das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) schätzt, dass durch die "Rente mit 67" im Jahre 2030 mit 1,2 Millionen bis 3,4 Millionen zusätzlichen erwerbsfähigen Personen auf dem Arbeitmarkt gerechnet werden muss. Es ist abzusehen, dass daraus weitere finanzielle Belastungen entstehen, entweder durch höhere Arbeitslosigkeit oder durch mehr erforderliche Beschäftigungsförderung - diese Kosten werden die marginale Beitragsentlastung schnell aufzehren.
Nun ist die Senkung des Rentenniveaus keine durch die Demografie unvermeidliche, also alternativlose Entwicklung, sondern politisch gewollt. Diese Kürzungen erzwingen indirekt die private Vorsorge, zum Beispiel mit der "Riester-Rente". Ab kommendem Jahr sollen alle Arbeitnehmer vier Prozent ihres Bruttoentgelts als Prämie für private oder betriebliche Altersvorsorge anlegen; nur so bestehe - bei entsprechender Verzinsung - die Aussicht auf ein auch künftig Lebensstandard sicherndes Alterseinkommen. Durch Fördermittel bei der "Riester-Rente" wird die Zusatzbelastung auf im Schnitt knapp drei Prozent begrenzt. Für die 2004 beschlossene weitere Niveausenkung durch die "Schmidt-Reform" ist allerdings keine Erhöhung der Zuschüsse vorgesehen. Um diese Lücke zu schließen, sind demnach weitere drei Prozent alleine von den Arbeitnehmern aufzubringen - 2030 also insgesamt 17 Prozent. Wie man sieht, lassen sich die Kosten nicht wegreformieren, sie werden nur anders verteilt.
Mit einem paritätischen Beitrag von (hoch gegriffen) 28 Prozent im Jahre 2030 wäre weiterhin ein Lebensstandard sicherndes Alterseinkommen finanzierbar - und zwar auch ohne die "Rente mit 67". Seit der "Riester-Reform" geht es allerdings vorrangig um die Privatisierung sozialer Risiken und ihrer Kosten. Gewinner sind Arbeitgeber und private Finanzdienstleister. Den (jüngeren) Arbeitnehmern wird dies als "generationengerechte Entlastung" verkauft; sie müssten 2030 nur 11 Prozent statt 14 Prozent Rentenbeitrag zahlen. Dass sie bereits heute für einen gesicherten Lebensabend insgesamt mehr aufzuwenden haben als die vermeintlich "unzumutbaren" 14 Prozent, die im Jahre 2030 für eine sichere Rente fällig wären, wird bei der öffentlichen Verdummungskampagne bislang erfolgreich unterschlagen. - Wer sich zudem, wie etwa der DGB, in die gegenwärtige Propagandainitiative (private) "Altersvorsorge macht Schule" einbinden lässt, der hat augenscheinlich politisch bereits kapituliert und sich vom Ziel einer Lebensstandard sichernden, paritätisch finanzierten Rente längst verabschiedet. Dann aber bleibt auch von einer Erwerbstätigenversicherung am Ende nicht viel mehr als weiße Salbe.
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