Besuch ist selten

Kaukasus Raue Berge, verlassene Dörfer, schwelende Konflikte: Im Norden Georgiens versuchen die Alten über die Runden zu kommen, während Europa die Jungen mit Visafreiheit lockt
Ausgabe 18/2017

Gestützt auf einen riesigen Stock schaut Gela in die untergehende Abendsonne. Jeden Sommer kommen er und ein paar andere Schäfer in die Gegend um Stepanzminda an Georgiens Grenze zu Russland. Das Dorf Nogkau hier ist einer der vielen Orte im georgischen Kaukasus, in denen die Häuser verlassen und verfallen sind. „Das größte Problem ist, wenn unsere Tiere weglaufen“, erzählt Gela und zeigt in Richtung Norden. „Dann brauchen wir eine Genehmigung aus der Hauptstadt Tiflis, um sie wieder einzufangen. Wenn wir ohne diese Erlaubnis die Grenze übertreten, werden wir dort vom russischen Militär verhaftet und müssen Strafen zahlen.“

Unweit von Nogkau herrschte noch vor wenigen Jahren Bürgerkrieg. 2008 eskalierten die Kämpfe zwischen südossetischen Rebellen und der georgischen Armee, Letztere startete eine Offensive, woraufhin sich russische Truppen auf Seiten der Abtrünnigen einschalteten – Südossetien löste sich vom Rest Georgiens ab, Souveränität wird ihm heute lediglich von Russland, Nicaragua, Venezuela und Nauru zuerkannt. Zu Tausenden flohen in der Region lebende Georgier nach Tiflis. Die meisten sind nie wieder in ihre Heimat zurückgekehrt. Ein Grund dafür ist, dass georgische Staatsbürger mit enorm langen Wartezeiten für eine Einreisegenehmigung nach Südossetien rechnen müssen. Anfang April dieses Jahres stimmten die Bewohner Südossetiens in einem Referendum für den bisherigen Parlamentssprecher Anatoli Bibilow als neuen Präsidenten, er gewann mit knapp 60 Prozent, was eine Vereinigung mit der russischen Teilrepublik Nordossetien-Alanien trotz internationaler Kritik absehbar macht.

Russland ist nah

Fortgezogen sind 2008 auch viele auf der georgischen Seite. Für den Schäfer Gela und seine Kollegen bringt dies einen Vorteil: Jedes Jahr können sie die leeren Häuser in den Dörfern besetzen, in deren Umland sich ihrer Ansicht nach die fruchtbarsten Böden des Landes befinden. Ebenso gibt es hier Schwefelquellen, die für ihre heilende Wirkung vor allem bei christlichen Pilgern bekannt sind. Die lokale Hauptstadt Stepanzminda, etwa 20 Kilometer von der russischen Grenze entfernt, zählt als ein beliebtes Ziel für Ski- und Bergtouristen, die meisten kommen aus Russland – sie können die Grenze visafrei passieren. In der umgekehrten Richtung stauen sich Lastwagen, die nach Russland wollen, kilometerweit. Das Zentrum der Stadt ist geprägt von Hotelschildern, auf dem Dorfplatz erwarten zahlreiche geländetaugliche Minibusse, Marschrutkas genannt, ankommende Touristengruppen, die den Berg Kasbek besteigen wollen. Der Gipfel markiert die Grenze zwischen Russland, Südossetien und Georgien.

Gela treibt die kleine Gruppe Schafe, die den Tag in der Ebene verbrachten hat, nach Hause, um sie hier zu scheren. Mit Einbruch der Dunkelheit folgen ihm seine Kollegen mit ihren Tieren, mehr als 3.000 zählt die aus den Bergen zurückkehrende Herde. Große kaukasische Schäferhunde mit buschigem Fell bewachen die Tiere. Ihre Halter haben im Hof des besetzten Hauses einen Tisch improvisiert. Hier warten nun das Fleisch des erst am Morgen geschlachteten Schafs, reichlich georgischer Wein und Tschatscha, der beliebte Traubenschnaps. Vor jedem Schluck werden philosophische Trinksprüche zum Besten gegeben, sie sind voller Romantik, Glaube und Nationalstolz oder handeln von Freundschaft und Familie; für meine Übersetzerin ist das Ausgesprochene schwer in Worte zu fassen, bevor die Männer das nächste Glas in einem Zug leeren.

Mit steigendem Alkoholpegel werden die Geschichten abenteuerlicher. Sie handeln vom rauen Leben in den Bergen, von den Wölfen und Bären, die in der ursprünglichen Natur die Schafherden angreifen. In bescheidenem Tonfall erzählt einer aus der Gruppe, wie er vor einigen Wochen mit fünf seiner Hunde und nur mit einem Stock bewaffnet einen Bären getötet habe, um die Herde zu schützen. Bis spät in die Nacht sitzen alle zusammen und trinken weiter, doch noch vor Sonnenaufgang sind die Hirten wieder auf den Beinen, um mit dem Scheren der Schafe zu beginnen. So geht es tagaus, tagein.

Die Hirten sind in Georgien geblieben, im Gegensatz zu vielen anderen. Nicht nur auf dem Land verlassen viele Georgier ihre Heimatorte, seit dem Zerfall der Sowjetunion sind 1,7 Millionen Bürger ausgewandert, nahezu ein Viertel der Bevölkerung. Nicht nur die Konflikte in Südossetien und dem weiter westlich, am Schwarzen Meer gelegenen Abchasien sind dafür verantwortlich, sondern auch die hohe Arbeitslosigkeit. Inoffiziellen Zahlen nach ist nahezu die Hälfte der Einwohner auf dem Land nicht oder nur zeitweise erwerbstätig. Die offizielle, landesweite Arbeitslosenquote Georgiens liegt bei 12,5 Prozent, betroffen sind vor allem die Jungen.

Einer von ihnen ist der 25-jährige Matso. Wir treffen ihn in Velevi, einem kleinen Dorf in der Region Ratscha, nahe der Demarkationslinie zwischen Georgien und Südossetien. Seine Zeit verbringt er in einem großzügigen Holzhaus, dessen Südseite voller kleiner Fenster ist – ein in Georgien häufig anzutreffendes architektonisches Merkmal.

Zweimal Landesmeister

Matsos Großvater war ein berühmter Arzt in der Gegend; die Bewohner der umliegenden Dörfer bauten ihm als Zeichen der Anerkennung für seine Hilfe das Haus. Der Enkel wohnt darin, hat aber Schwierigkeiten, sein Leben zu finanzieren. Er liebt die Natur seines Landes und versucht, andere Menschen für sie zu begeistern.

So sammelt er den überall achtlos weggeworfenen Müll auf, organisiert Kletter- und Wandertouren für Freunde und Bekannte. Zweimal war Matso georgischer Meister im Sportklettern, er wurde gesponsert und ist in Musik- sowie Werbevideos aufgetreten, immer wieder kamen Jobs als Reiseführer oder als Organisator verschiedener Veranstaltungen hinzu. Trotzdem ist es schwer, mit seinem schmalen Einkommen ein sorgenfreies Leben zu führen. „Die Alten müssen endlich abkratzen!“, antwortet er auf die Frage, was sich in seinem Land ändern müsse.

Georgiens Generationenkonflikt zeigt sich besonders stark hier auf dem Land. Während sich viele Alte in Erinnerung an den Kommunismus, als es wenigstens Arbeit und immer etwas zu essen gab, nach Russland orientieren, träumen die Jungen oft von Europa. Dessen illuminierte Flagge strahlte im März von Häuserwänden in Tiflis, es gab Straßenfeste, um die von der EU gewährte Visumsfreiheit zu feiern: Seit dem 28. März können alle Georgier, die im Besitz eines biometrischen Passes samt Fingerabdruck sind, ohne Visum für 90 Tage in den Schengen-Raum einreisen. Was für den mit seiner Heimat verbundenen Matso noch keine Option ist: Mehr Georgier als bisher schon, vor allem aus den Grenzregionen, könnten ihr Glück in Europa suchen.

Bei den Parlamentswahlen im vergangenen Oktober hat Matso die „Vereinte Nationale Bewegung“ gewählt, der der zwischen 2004 und 2013 als Präsident amtierende, in den USA promovierte Micheil Saakaschwili angehört. Matso sieht sie als einzige realistische Alternative zum „Georgischen Traum“, deren Gründer Bidsina Iwanischwili seine Milliarden im Zuge der Privatisierung russischen Staatseigentums mit Rohstoffhandel gemacht hat, sich offiziell nach Europa ausrichtet und zugleich beste Beziehungen nach Russland unterhält. 2012 wurde aus der Oppositions- eine Regierungspartei, der „Georgische Traum“ gewann die absolute Mehrheit und steigerte sie 2016 auf eine Dreiviertelübermacht.

Wir verlassen Velevi gemeinsam mit Matso, gehen durch die Wälder in Richtung Khontschiori und treffen in einem kleinen Ort die 56-jährige Maguli. Sie und zwei andere Familien sind die einzigen hier verbliebenen Bewohner. Ihre eigenen Kinder sind weggezogen, seit 20 Jahren versucht sie ihr einfaches, zugiges Haus zu renovieren. Doch alleine kann sie es nicht einmal ordentlich in Stand halten. Wenn der Schnee im Winter auf das Dach drückt und über Monate hinweg alle Wege blockiert, findet sie bei ihrer Tochter Unterschlupf, die in die 150.000-Einwohner-Stadt Kutaissi gezogen ist und genauso wie Magulis in Tiflis lebender Sohn kaum Arbeit findet, trotz guter Schulabschlüsse. Maguli selbst sagt, sie würde auf ihrem Hof gern ein Gästehaus einrichten. Reisende aber kommen nur selten in die Gegend.

Ein paar Kilometer weiter, in Shkartali, wohnt der 57-jährige Jura. Er ist der einzige Bewohner des Dorfes. Am Tag zuvor hat Matso ihn betrunken und mit blutig zerkratztem Gesicht am Wegesrand aufgelesen. Als wir am Mittag ankommen, ist er wieder am Trinken. „Was soll ich denn auch anderes machen, wenn mich hier nur noch Wölfe und Bären besuchen kommen?“, fragt er und lacht.

Info

Johannes Stein hat als freier Fotograf und Journalist Reportagen etwa aus Madagaskar, Transnistrien und Albanien veröffentlicht

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