Geist eines Klopfens

Genius Loci Hat er oder hat er nicht? Ob es den Thesenanschlag gab, bleibt ungewiss. Ein Besuch in Wittenberg
Ausgabe 43/2017

Am 31. Oktober 1517 schlug Martin Luther seine 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg. Ein Ereignis, das als Beginn der Reformation angesehen wird, einer Bewegung, aus der heraus Aufklärung, Säkularisation, Kapitalismus, ja selbst Expressionismus erklärt worden sind. In diesem Jahr wird dies alles auf den Tag genau vor einem halben Jahrtausend seinen Anfang genommen haben. Bei derartigen historischen Dimensionen kann einem durchaus schwindelig werden. Und auch die Überlieferung mag angesichts so beachtlicher Zeiträume und großartiger Auswirkungen von einem gewissen Schwindel ergriffen sein. Grund genug, sich auf der Suche nach etwas Halt an den Ort des gefeierten Geschehens zu begeben: die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg. Um 1500 war die Kirche Allerheiligen mit dem Schloss verbunden worden. In ihr verwahrte Friedrich Wilhelm III. seine berühmte Reliquiensammlung. Historikern zufolge hatte der sächsische Kurfürst 1509 bereits so viele Reliquien erworben, dass er über einen Ablass von mehr als 1.000 Jahren verfügte, eine Zeitersparnis also von 1.000 Jahren Fegefeuer. Friedrich, Gründer der Wittenberger Universität, war zugleich der wichtigste Unterstützer Luthers.

Dessen Kritik an der römischen Kirche wiederum richtete sich vornehmlich gegen den Handel mit Ablässen. Zum ersten Mal wurde diese Kritik somit angeblich ausgerechnet an der Tür ebenjener Kirche laut, in deren Inneren sich der Schatz befand, den Friedrich so hochhielt, dessen heilspendende Kraft jedoch durch die Thesen Luthers, der immerhin an Friedrichs Universität die Auslegung der Bibel lehrte, in Frage gestellt war. Eine heikle, wenn nicht gar widersprüchliche Situation. Gleichwohl können die Thesen an der Tür der Schlosskirche wahrhaftig und in voller Zahl in Augenschein genommen werden. Die „Thesentür“ wartet mit der lateinischen Urfassung auf, die in historisch belegbaren Einblattdrucken zirkulierte. Die bronzenen Flügel der Tür sind durch schlanke Säulen in sechs Kolumnen unterteilt, in denen der Text fortläuft. Er ist nicht graviert, sondern plastisch, so dass die Spalten mit den hervortretenden Lettern wie Druckplatten wirken. In Anspielung auf die legendäre Veröffentlichung der Thesen erscheint die Tür selbst als ein Schriftstock, als wäre die revolutionäre Botschaft tatsächlich durch sie vervielfältigt und verbreitet worden.

Unser Luther ist auch Preuße

Das vermeintlich authentische „Medium“, die hölzerne Tür aus der Zeit Luthers, ist längst verloren. Das heutige Portal stammt aus dem 19. Jahrhundert, ist eine Stiftung des preußischen Königs Friedrich Wilhelms IV. In der Mitte des Türsturzes prangt der preußische Adler und die ihn umgebende Inschrift verknüpft den 31. Oktober 1517 mit dem Königtum der Hohenzollern. Entworfen wurde die Tür durch Friedrich Drake. Andere Arbeiten des Bildhauers sind die Viktoria der Berliner Siegessäule, die an die Einigungskriege erinnert, aus denen das deutsche Kaiserreich unter preußischer Vorherrschaft hervorgegangen ist, oder auch ein Reiterdenkmal des ersten deutschen Kaisers, Wilhelm I.

Stifter und Künstler der Thesentür lassen erahnen, wie intensiv die Reformation mit der Machtpolitik Preußens verwoben ist. Datum und Ort des Thesenanschlags sind ein Brennpunkt, in dem diese besondere Tradition des Gedenkens augenscheinlich wird. Und auch 1917, anlässlich des 400-jährigen Reformationsjubiläums, ist Luther vor der Tür der Schlosskirche anzutreffen. Den Hammer in der Hand und Entschlossenheit im Blick wendet er sich in den Darstellungen der Zeit zum Betrachter um. Wie zum Beispiel in einer Gottesdiensteinladung, die das Bild des Reformators um aufschlussreiche Zeilen ergänzt: „Und wenn die Welt voll Teufel wär und wollt uns gar verschlingen, so fürchten wir uns nicht so sehr, es soll uns doch gelingen.“ Ein lutherisches Kirchenlied wird im Angesicht des bevorstehenden Zusammenbruchs des Kaiserreichs zur Durchhalteparole und der zum „Anschlag“ bereite Luther selbst zum Vorbild im Kampf gegen die äußeren wie inneren Feinde. 500 Jahre sind eine lange Zeit. Wenn dieser Tage der Reformation gedacht wird, sollte dies in dem Bewusstsein geschehen, dass uns die Thesentür Friedrich Wilhelms IV. näher ist als jene Tür, an die Luther seine Thesen vielleicht nie geschlagen hat. Ebenso sind uns die Jubiläen, die den diesjährigen Feierlichkeiten vorangegangen sind, näher als die Ereignisse, an die sie erinnern – wahrscheinlich näher, als uns lieb ist.

Johannes von Müller arbeitet als Kunsthistoriker am Warburg Institute in London

der Freitag digital zum Vorteilspreis

6 Monate mit 25% Rabatt lesen

Der Freitag im Oster-Abo Schenken Sie mutigen Qualitätsjournalismus!

Print

Entdecken Sie unsere Osterangebote für die Printzeitung mit Wunschprämie.

Jetzt sichern

Digital

Schenken Sie einen unserer Geschenkgutscheine für ein Digital-Abo.

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden