Bis der Messias wiederkommt

Nahost Israel hat den Siedlungsbau in Ost-Jerusalem vorerst gestoppt. In Hebron kann man besichtigen, wie die Siedlungspolitik der Regierung eine ganze Stadt ­zerrissen hat

Keine Menschenseele ist zu sehen. Auch am israelischen Armeeposten regt sich nichts. Wachturm, Tarnnetze, Stacheldraht, Barrieren – zum Glück ist man nicht allein. Yehuda Shaul führt das gute Dutzend Journalisten durch die Stadt, in der Abraham und Sarah begraben liegen. Als Soldat war der Israeli während der Zweiten Intifada – sie begann im September 2000 – monatelang in Hebron stationiert. Nun engagiert er sich für die Organisation Breaking the Silence (Das Schweigen brechen), ein Zusammenschluss ehemaliger Soldaten, die gerade erst mit ihren Aussagen über Kriegsverbrechen, die während der israelischen Gaza-Operation „Gegossenes Blei“ Anfang 2009 begangen wurden, von sich reden machte.

Der Mittzwanziger merkt an, dass die Stadt nun im Vergleich zur heißen Phase des zweiten Palästinenseraufstandes wie auch den darauf folgenden Jahren geradezu „lebendig“ sei. Nur wird von dieser Vitalität nichts spürbar. Fast alle Läden sind verschlossen und mit Parolen beschmiert – mit araberfeindlichen Botschaften in hebräischer Sprache.

„Wie Sie sehen können, gibt es alle 50 Meter einen Armeeposten”, weist Shaul fast im Minutentakt auf Kontrollpunkte der Israelis hin. Wer Hebron einmal komplett durchwandert, der kann 93 Straßensperren zählen – Kontrollpunkte, Tore, Betonblöcke. Und der weiß auch, welches Sicherungsregime in Betracht kommt für jene israelischen Wohnsiedlungen, die in Ost-Jerusalem inmitten palästinensischer Domänen errichtet und bezogen werden sollen.

Wo beginnt die Rote Linie?

Yehuda Shaul erinnert sich der Zeit seines Militärdienstes im Westjordanland: „Wenn wir damals, als die zweite Intifada tobte, ein Wochenende hinter uns brachten, ohne dass jemand getötet wurde, war das ein Grund zum Feiern. Seinerzeit gab es ständig Angriffe der Palästinenser, bei denen Soldaten oder Siedler getötet wurden. Vieles, was man heute in Hebron zu sehen bekommt, lässt sich gewiss mit Sicherheitsgründen rechtfertigen. Die Frage ist nur: Wo beginnt die rote Linie?”

Weiter geht der Rundgang durch gespenstisch leere Viertel. Yehuda Shaul spricht über „humanitäre Erleichterungen”, die man den Palästinensern gewährt habe. Sie dürften in diesen Straßen der Innenstadt wieder zu Fuß – allerdings nicht mit einem Fahrzeug – unterwegs sein. Ein Kollege fragt, ob hier, wo man gerade stehe, auch Palästinenser stehen dürften. „Nur die Familien, die hier leben”, entgegnet Shaul.

Ein Fahrzeug mit israelischem Kennzeichen biegt um die Kurve und hält an. Der Fahrer springt heraus und stürmt auf Yehuda Shaul zu, um ihn übergangslos als „Lügner“ und „Verräter“ zu beschimpfen. Wie sich herausstellt, handelt es sich bei dem erregten Mann um einen jüdischer Siedler. Einen von etwa 500, die augenblicklich in Hebron leben und für den Ausnahmezustand verantwortlich sind, in dem die Stadt ihr Dasein fristet. Shaul bleibt gefasst und meint, er kenne diese Attacken zur Genüge, seit er Journalisten und Diplomaten durch Hebron führe.

Über Generationen und Jahrhunderte hinweg lebten und arbeiteten Juden und Palästinenser im Glasmacher-Viertel von Hebron zusammen. Die Koexistenz, wie sie aus Nachbarschaft erwächst, dauerte bis zum Jahr 1929, als 87 Juden von palästinensischen Fanatikern massakriert wurden. Daraufhin forderte die britische Mandatsbehörde die jüdische Gemeinde auf, die Stadt zu verlassen, da man nicht länger für ihren Schutz garantieren könne.

Erst mit der israelischen Eroberung der Westbank während des Sechs-Tage-Krieges im Juni 1967 kehrten Juden nach Hebron zurück, unter anderem 33 Orthodoxe, die sich mit ihrem Rabbi Mosche Levinger im Park-Hotel inmitten der Altstadt niederließen. Erst gaben sie an, nur über das Pessach-Fest bleiben zu wollen, bald aber hieß es, sie würden „bis zur Rückkehr des Messias“ ausharren. Wie sich herausstellte, waren sie das Vorauskommando der ersten Siedler, deren Nachfolger heute von etwa 2.000 israelischen Soldaten und Polizisten bewacht werden. Noam Arnon, derzeit Sprecher der jüdischen Gemeinschaft von Hebron, begründet diese Präsenz mit den Worten: „Wir wurden 1929 brutal vertrieben. Nun beanspruchen wir unser Eigentum.“ Die Frage sei doch, ob Juden in Hebron das Recht hätten, wie „normale Menschen mit ihrem Eigentum zu leben, auf ihrem Land zu bauen und Häuser zu kaufen wie Juden in New York oder Berlin. Wir wollen einem Araber keinen Zentimeter nehmen – wir wollen nicht stehlen“.

Über Dächer und Balkone

Yehuda Shaul will noch durch die Märtyrerstraße führen, die frühere Hauptstraße. „Das ist heute eine öde wirkende Passage. Nur Juden oder Ausländern vorbehalten, keinem Palästinenser. Von ehemals 50 palästinensischen Familien leben noch vier in diesem Bezirk der Innenstadt. Um ihre Häuser verlassen zu können, müssen sie zum Teil über Dächer und Balkone klettern, wenn es keinen Hinterausgang gibt.”

Gäbe es einen Staat Absurdistan, müsste Hebron zu dessen Hauptstadt erklärt. Auch wenn zuletzt die Gewalt zwischen Siedlern und palästinensischer Mehrheit nachgelassen hat, kommt es doch fast täglich zu Wortgefechten und Handgreiflichkeiten. Beobachter der TIPH, der Vorübergehenden Internationalen Präsenz in Hebron (www.tiph.org), haben seit 1997 über 13.000 Vorfälle dieser Art dokumentiert und dabei zwei ihrer Mitarbeiter verloren. Bis heute ist nicht geklärt, wer die beiden Türken erschossen hat.

Die israelische Menschenrechtsorganisation B‘tselem (www.btselem.org) veröffentlichte 2007 ihren Bericht „Stiller Transfer“ über die Enteignung der Palästinenser in diesem Teil der Westbank und resümierte: 440 palästinensische Geschäfte seien in Hebron aufgrund von Militärbefehlen geschlossen worden. Daraus folge eine „massive Abwanderung aus dem Stadtzentrum“. Sie gehe auf die Politik einer „Trennung wegen der national-ethnischen Herkunft“ zurück. Israel gäbe damit den „Interessen der Siedler“ klar den Vorzug.

Zum Abschluss der Führung will Yehuda Shaul einen Palästinenser vorstellen, dessen Haus im Stadtteil Tel Rumeida regelmäßig von Siedlern heimgesucht wird. Abu Mohammed und seine Familie sind wiederholt mit Flaschen und Abfall beworfen worden. Die Stromzufuhr sowie die Telefon- und Wasserleitungen zu seinem Haus wurden gekappt. „Wir haben das alles reparieren können, aber einen Monat später durchtrennten die Siedler erneut alle Verbindungen.”

Damit er künftig die Siedlergewalt dokumentieren kann, hat B’tselem Abu Mohammed eine Videokamera übergeben, doch der wünscht sich nichts sehnlicher, als dass ihm weitere Konfrontationen erspart bleiben: „Wir hoffen, dass wir hier friedlich leben können. Als Palästinenser sind wir entschlossen, Frieden mit den Israelis zu erreichen.“ Und Yehuda Shaul meint „Wenn Juden hier unter israelischem Schutz leben, dann sollten die Palästinenser in Hebron wenigstens die gleichen Rechte haben. Der Preis, den sie für die Siedler bezahlen, ist nicht hinnehmbar.“

Die israelische Siedlungspolitik

1967-1973: Living together

Nach dem Sieg im Sechs-Tage-Krieg vom Juni 1967 beginnt der Bau jüdischer Siedlungen in der Westbank, in Gaza, auf den Golan-Höhen und der Sinai-Halbinsel. Protagonist ist der damalige Verteidigungsminister Dayan, der mit Blick auf Israelis und Palästinenser den Slogan prägt Living together. Die Palästinenser in der Westbank erhalten den Status extraterritorialer Jordanier, während die Gaza-Bevölkerung für staatenlos erklärt wird.

1973-1978: Galili-Protokoll

Der Yom-Kippur-Krieg, den Israel nach einigen Rückschlägen gewinnt, ist Anstoß für eine Siedlungspolitik, die auf partielle Kolonisierung besetzter Gebiete zielt. Das Galili-Protokoll verfügt deren De-facto-Annexion, die aber keine De-jure-Annexion sein soll. Der Sinai soll großzügiger besiedelt werden, um ägyptischen Überraschungsangriffen vorzubeugen. Ein Vorhaben, das 1978 nach dem Friedensvertrag mit Kairo entfällt. Mitte 1977 existieren 36 Siedlungen mit 4.500 Bewohnern.

1978-1985: Eigene Straßen

Unter den Regierungen Begin und Shamir werden auf Druck der Siedlerbewegung Gush Emunim alle bis dahin illegal errichteten Kibbuzim legalisiert. Zugleich entstehen Militärcamps für zivile Siedler, um sie nicht als zivile Siedlungen klassifizieren zu müssen. In der Westbank beginnt der Bau von Trassen, die nur von Israelis genutzt werden dürfen. Die Zahl der Siedler steigt auf über 50.000.

1993-2005: Elf Kantone

Die in den neunziger Jahren aus der Ex-UdSSR in Israel einwandernden 464.000 Juden verschaffen der Siedlungsbewegung einen heftigen Schub, so dass die Oslo-Verträge nicht zuletzt daran scheitern. Ein Plan des damaligen Premiers Sharon sieht 2005 eine Aufteilung der Westbank vor, bei der den Palästinensern nur elf isolierte Kantone bleiben sollen. Ein Schritt, um irreversible Realitäten zu schaffen, während zugleich im Gaza-Streifen bis September 2005 alle Camps geräumt werden. Sharons Projektion für 2010 sieht 250.000 Israelis in der Westbank vor die Zahl ist Mitte 2009 erreicht.

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