Ins Land der Vorväter

Das Israel der Siedler Kein Pardon für Ariel Sharons Abzugsplan aus dem Gaza-Streifen

Der Journalist Yoel Marcus nennt sie "tickende Zeitbomben". Nicht nur in seinen Augen gefährden die Siedler Israels Demokratie, wenn sie - wie jüngst geschehen - wegen der beschlossenen Auflösung ihrer Niederlassungen im Gaza-Streifen das Land mit brennenden Reifen, Straßenblockaden und Protesten vor Regierungsgebäuden lähmen und bedrohen. Doch wer sind eigentlich "die Siedler"?

Schon im September 1967, drei Monate nach dem Ende des Sechs-Tage-Krieges, begann die Besiedlung des Westjordanlandes, des Gaza-Streifens und Ost-Jerusalems - zunächst durch den Aufbau von Militärcamps. Die Politik der damals regierenden Arbeitspartei zielte darauf, "durch Siedlungen strategisch wichtige Gebiete zu kontrollieren, das israelische Kernland zu schützen und die Herrschaft über Jerusalem zu festigen", meint der palästinensische Politikwissenschaftler Usama Antar in seiner 2004 erschienenen Studie Voraussetzungen eines existenzfähigen palästinensischen Staates. Israels Regierung stützte sich seinerzeit auf einen Plan des Arbeitsministers Allon, der vorsah, 40 Prozent des Westjordanlandes durch den Siedlungsbau quasi zu annektieren.

"Dieses Land wurde auf ewig von Gott allein denen versprochen, die hier geboren wurden. Dass ich aus Peru komme und keine jüdischen Wurzeln habe, bedeutet nichts. Das Buch Zefanja sagt: Nur wer ein gläubiger Jude sein will, hat das Recht auf das Land Israel", meint Batya Mendel, die kurz zuvor noch Blanca hieß und in Peru lebte. Ihrer Einwanderung nach Israel ging eine Reise von Rabbinern in das Andenland voraus, die 90 Peruaner überwiegend indianischen Ursprungs überzeugten, zum Judentum überzutreten, und nach ihrer Ankunft in Tel Aviv sofort in zwei Siedlungen bei Bethlehem unterbrachten.

Seit 1967 haben israelische Regierungen Gebiete im Westjordanland und im Gaza-Streifen - so dokumentierte es die palästinensische Organisation PASSIA - für militärische Zwecke und aus Sicherheitsgründen konfisziert, als "zurückgelassenes Gut" deklariert oder im Interesse des "öffentlichen Bedarfs" reklamiert. Eine Zäsur gab es 1977 mit der Machtübernahme durch die Likudpartei unter Premier Menachem Begin, als defacto alle besetzten Gebiete zur Besiedlung freigegeben wurden, obwohl ein solcher Transfer der eigenen Bevölkerung nach Artikel 49 der Vierten Genfer Konvention als völkerrechtswidrige Kolonisierung gilt.

Yitzik Shamir ist Offizier in der israelischen Armee und wohnt in "Judäa", wie die Siedler das südliche Westjordanland nennen. Der blauäugige, hellhäutige 30-Jährige bekennt freimütig, "die Araber müssen verstehen, das ist unser Land". Yitzik hat an diesem Junitag noch zwei Stunden Zeit bis zum Shabbat-Beginn, die Konkurrenz beim Trampen jedoch ist groß. Fast zwei Dutzend Siedler warten am Stadtrand von Jerusalem, um über die Siedlerstraße 60 nach Hebron zu kommen. Manche tragen weiße Hemden und schwarze Hüte, um die Ohren kringeln sich die Schläfenlocken. Andere sind in kurzen Hosen, das Gewehr auf dem Rücken, mit selbstgehäkelter "Kippa" unterwegs. Die Siedler sind alles andere als eine homogene Gemeinschaft. Da lebt ein streng orthodoxes Paar aus Tel Aviv in der Nachbarschaft einer Familie aus New York, die sich ins Land der Vorväter gerufen fühlt. Wieder andere sind vom zionistischen Pioniergeist beseelt oder folgen den Kibbuzniks aus ökonomischen Gründen. Allein Wohnungen und Dienstleistungen werden in den Westjordan-Camps dank staatlicher Subventionen (jährlich etwa 560 Millionen Dollar) zu lukrativeren Preisen angeboten als in Israel.

Damit die Siedler auf der Fahrt zu ihren schwerbewachten Siedlungen (*) nicht durch palästinensische Dörfer fahren müssen, existieren 800 Kilometer so genannter "By-Pass-Straßen", die Palästinenser entweder gar nicht oder nur eingeschränkt befahren dürfen. Die Pisten verbinden Siedlungen, die schon von weitem zu erkennen sind, weil sie bevorzugt auf Hügeln liegen und sich durch rote, geneigte Ziegeldächer zu erkennen geben, während ein traditionelles palästinensisches Haus flach und in der Regel nicht aus Ziegeln gebaut ist. Wer eine solche Kolonie betreten will, muss entweder am Eingangstor einen Zahlencode eingeben oder einen Pförtner um Einlass bitten und kann anschließend eine grüne Oase mit Schwimmbad und Olivenhain in einer ansonsten kargen Landschaft in Augenschein nehmen. Während die palästinensische Nachbarschaft jeden Sommer unter einer zermürbenden Wasserknappheit leidet.

Die Siedler werden bis heute von vielen, auch außerhalb Israels, wegen ihres zionistischen Idealismus bewundert. Oder weil sie scheinbar mühelos Hunderttausende von Demonstranten mobilisieren können (von denen Israels Friedensbewegung derzeit nur träumen kann). Denn für die meisten Siedler gilt Ariel Sharons Rückzug aus dem Gaza-Streifen als Verstoß gegen einen göttlichen Willen. Auf den Internetseiten der Bewegung wird daher heftig für einen "alternativen jüdischen Abzugsplan" agitiert, der die "Annektierung dieser Gebiete" und die "Vertreibung der feindseligen Araber" in ein Land weit "außerhalb Israels" verlangt.

Die "Araber", wie die Palästinenser von den Israelis genannt werden, können bei alledem schwerlich an Frieden glauben. Sie können die fortgesetzte Landnahme für Mauer- und Siedlungsbau nur so deuten, dass die Besatzung in den palästinensischen Gebieten aufrechterhalten bleiben soll. "Der Versuch, eine feindliche Bevölkerung, die sich in ihrer Sprache, Geschichte, Kultur und Religion, in ihrem Nationalbewusstsein und ihren Hoffnungen, in ihrer Wirtschafts- und Sozialstruktur von uns unterscheidet, am Ende des 20. Jahrhunderts beherrschen zu wollen, gleicht ungefähr dem Versuch, heute den Feudalismus wiederaufleben zu lassen", schrieb vor genau 25 Jahren der israelische Historiker Yaacov Talmon in einem offenen Brief an Menachem Begin. Darin bezeichnete er das Jahr 1967 als einen Wendepunkt in der Politik Israels, weil sich die Regierung von dem Axiom entfernt habe, "keine territorialen Ansprüche zu erheben, sondern vielmehr die Gebiete im Austausch gegen Frieden zurückzugeben." Dies sei ein "fataler Fehltritt" gewesen. "Die Kombination" - so Yaacov Talmon - "aus politischer Unterwerfung, nationaler Unterdrückung und sozialer Unterlegenheit ist eine Zeitbombe." Wie sie tickt, kann augenblicklich manchen Hauswänden in Tel Aviv entnommen werden. Wenige Wochen vor dem Gaza-Abzug ist dort zu lesen: "Wir haben Rabin getötet, jetzt töten wir dich, Sharon!"

(*) Die Zahl der Siedlungen schwankt je nach Einbeziehung des Großraumes Ost-Jerusalem zwischen 143 und 276.


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