Kleine Schritte ins Aus

Klimanotstand Um den Planeten zu retten, muss Umweltschutz ab sofort zum Leitprinzip allen politischen Handelns werden. Kann unser politisches System das überhaupt leisten?

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Protest am Aletschgletscher
Protest am Aletschgletscher

Foto: Fabrice Coffrini/AFP/Getty Images

Die „Politik der kleinen Schritte“ folgt einer einfachen Logik. Wenig Fortschritt ist besser als gar kein Fortschritt – und auf lange Sicht höhlt der stete Tropfen den Stein. Ein Ansatz, der sich von Bismarck über Brandt bis hin zu Merkel wie ein roter Faden durch die deutsche politische Geschichte zieht, sie geradezu – jedenfalls in der vergangenen Dekade – ausmacht. Er findet seine Grenzen aber dort, wo man es sich nicht – oder: nicht mehr – leisten kann, sich Zeit zu lassen, denn dort entpuppt sich die scheinbare Vernunft und Abgewogenheit als Akrasia. Nun pfeifen es die Spatzen von den Dächern und rufen es die Schüler*innen von den Straßen: Beim Umweltschutz ist es fünf vor zwölf.

Untergangsszenarien

Man muss sich die Augen zuhalten, um die Vorboten der Apokalypse nicht zu sehen. Ende März warnte die Präsidentin der Generalversammlung, María Espinosa aus Ecuador, die versammelten Diplomat*innen bei den Vereinten Nationen davor, dass der internationalen Gemeinschaft nur noch elf Jahre blieben, um irreversible Schäden am Planeten zu verhindern. Sie ließ auch nicht unerwähnt, dass der Klimawandel bereits jetzt Opfer fordert, so etwa die hunderttausenden Menschen, die in Ländern wie Mosambique, Malawi und Simbabwe unter dem vermehrten Aufkommen von Zyklonen und Tropenstürmen leiden. „2019 muss das Jahr sein, in dem wir auf jeder erdenklichen Stufe etwas für den Klimaschutz unternehmen“, sagt sie.

Es ist wichtig, dass Politiker*innen dieses Ranges auf einer solch großen Bühne auf die Dringlichkeit des Anliegens hinweisen und sich so auf die Seite der jungen Menschen stellen, die derzeit zu hunderttausenden auf die Straße gehen – und um deren Zukunft es letztlich geht. Ob das die nationalen Regierungen und Politiker*innen zum Umdenken bewegen wird, ist unklar. Denn durch die Proteste gehen die Lobbyisten und „special interests“, die Bernie Sanders derzeit zehnfach am Tag beschwört, nicht einfach weg. Aber selbst, wenn wir uns vorstellen, dass am morgigen Tag eine Kehrtwende in der Politik einsetzt und sich alle dem Ziel verschreiben würden, den Planeten zu retten, stellt sich dennoch die Frage: Kann unsere Politik, unsere Demokratie mit ihren Institutionen, dieses Ziel rein funktionell überhaupt noch in der verbleibenden Zeit erreichen – oder stoßen wir nicht an menschgemachte Grenzen?

Numbers Game

Der Generalsekretär der UNO, António Guterres, wies in derselben Sitzung der Generalversammlung darauf hin, dass der Menschheit die Instrumente zur Abwendung der Klimakatastrophe schon zur Verfügung stünden, namentlich das Pariser Abkommen und die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung. Nun wird das Pariser Abkommen selbstverständlich zu Recht als bahnbrechende Errungenschaft der internationalen Gemeinschaft (lies: alle außer den USA und Syrien) gefeiert. Ihm liegt aber auch ein elaboriertes Zahlenspiel zugrunde. Die Unterhändler einigten sich auf zwei Richtwerte. So erkenne man die globale Erwärmung an und wolle diese langfristig auf deutlich unter (englische Fassung: „well below“) 2 Grad Celsius gegenüber vorindustriellen Werten begrenzen. Zudem werde man „Anstrengungen unternehmen“, um den Anstieg auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen.

Hintergrund ist, dass zahlreiche Studien wie etwa der IPCC special report (2018) zu dem Ergebnis gekommen waren, dass der Anstieg höchstens 1,5 Grad Celsius betragen dürfe, um extreme Auswirkungen auf irdisches Leben zu verhindern. Staaten südlich vom Äquator hatten in den Verhandlungen auf die Fixierung des Wertes gedrängt, nicht zuletzt, da diese die von den Auswirkungen eines steigenden Meeresspiegels schon jetzt betroffen sind. Der Unterschied von einem halben Grad trennt schlimm von schlimmer: Ein Anstieg von 1,5 Grad Celsius würde beispielsweise zu häufigerem Massenaussterben von Korallenriffen führen. Bei 2 Grad würden Korallenriffe als solche verschwinden.

Dass das Pariser Abkommen nun zwei Benchmarks enthält, gibt den Unterzeichnern einen gewissen Spielraum, der nicht schlecht sein muss. Wenn (wie bei solchen Abkommen üblich) sowieso zu erwarten, dass sich nicht alle bzw. die wenigsten Unterzeichner an die Werte halten würden, deren Nichteinhaltung weder schadensersatz- noch sonstwie strafbewehrt ist, so ist es doch zumindest gut, den Nationen einen weniger strengen Wert anbieten zu können, mit dessen Einhaltung sie dann politisches Kapital schlagen können. Andererseits ist die Ausgestaltung der 1,5 Prozent als „nice to have“ ein Garant dafür, dass der Wert nur von den wenigsten Nationen erreicht wird.

Staatszielbestimmung? Bedingung des Politischen!

Um es zusammenzufassen: Die Erde wird auch dann schwer geschädigt, wenn das primäre 2-Grad-Ziel der Pariser Vereinbarung erreicht wird, was als solches schon herkulianische Anstrengungen erfordern dürfte. Sie wird sich aber selbst dann in einen lebensfeindlicheren Ort verändern, wenn wir das ambitioniertere und unverbindlichere der beiden Ziele erreichen. Experten prognostizieren nun, dass die deutschen Pläne bis 2030 die 1,5-Marke bei Weitem verfehlen könnten.

Trotz alledem diskutieren wir immer noch lieber darüber, ob Klimaschutz als Staatszielbestimmung in das Grundgesetz aufgenommen werden sollte, und tun dabei so, als wäre das ein Schritt in eine Utopie und nicht eine Untertreibung des Ernstes der Lage. Die „kleinen Schritte“ lassen sich eben schwer aus der deutschen Mentalität austreiben. Habitus. Warum sehen wir nicht, dass es diese Zukunft, in der sich die kleinen Schritte zu einem Großen und Ganzen zusammenfügen, nicht geben wird, wenn wir bei dem Klima so weitermachen?

Statt nur einer Staatszielbestimmung muss der Umweltschutz in der politischen Wahrnehmung eine Rolle als unumstößliche, alles beeinflußende Leitmaxime einnehmen, die bei jeder politischen und gesetzgeberischen Entscheidung zwingend zu berücksichtigen ist. Umwelt muss mindestens so wichtig wie Geld sein, schließlich leben wir von beidem. Genau wie das Finanzministerium in jedem Gesetzgebungsverfahren beteiligt wird, sollte auch das Umweltministerium stets konsultiert werden. Umweltrisiken sollten dasselbe Gewicht wie Haushaltsbedenken eingeräumt werden, entlang beiden sollten politische „rote Linien“ verlaufen. Der Umweltschutz muss im Politischen als Bedingung angelegt, er muss institutionalisiert werden, so dass garantiert ist, dass sein Anliegen an keiner Stelle mehr außen vor gelassen werden kann. Und das sind keine mittel- oder langfristigen Zielbestimmungen – das brauchen wir alles gestern. Viele Menschen – der Autor inklusive – werden ein gewisses Format brauchen, um sich einzugestehen, dass die Grünen vielleicht Recht hatten.

Organisationen wie Fridays for Future fordern nun, dass Politiker weltweit einen „Klimanotstand“ ausrufen. Dabei geht es nicht nur um ein Buzzword, es wäre damit schon rein sprachbildlich viel bewirkt. Spricht man nämlich statt beschönigend vom „Klimawandel“ von einem echten Notstand – „emergency“ –, dann nähert man sich begrifflich an etwas an, was die eigene Wahrnehmung umfassend, insgesamt und auf einer übergeordneten Stufe prägt. So wie alle Lebewesen auf unterbewusste Schutzreflexe umschalten, sobald sie Lebensgefahr ahnen. Der Begriff Klimanotstand ist deshalb nichts anderes als adäquat. Auch der Bund oder größere Städte als Heidelberg – nichts gegen Heidelberg! – sollten sich dazu bequemen, ihn sich zu eigen zu machen. Nennt das Kind beim Namen!

Durch den Stresstest gefallen

Aber selbst, wenn man unterstellt, dass wir noch rechtzeitig zu einem Konsens dieser Art kommen, stellt sich die Frage, ob unser politisches System eine solche Umorientierung und Konzentration auf ein Einzelthema überhaupt (in den nächsten elf Jahren!?) leisten kann. Mit anderen Worten: Ob es mit den aktuell zur Verfügung stehenden Prozessen, Rahmen und Schablonen überhaupt gelingen kann, große statt kleine Schritte zu nehmen und irreversible Schäden an der Umwelt zu verhindern oder zu begrenzen. Der Frage könnte man nun entgegenhalten, dass man auch Institutionen, sogar das Grundgesetz ändern kann, wenn es sich als unbedingt erforderlich erweist. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Einzig: Für institutionelle Reformen gibt es schlichtweg keine Zeit mehr. Zudem wird die Reformbedürftigkeit einiger Institutionen, wie etwa der EU-Gesetzgebung, schon seit Jahren bemängelt, ohne dass etwas passiert wäre, so dass zweifelhaft ist, ob sich an der Stelle jemals etwas tun wird. Unterm Strich: Wir müssen eben das Beste aus dem machen, was wir haben.

Die Geschichte gibt nicht gerade Anlass zur Hoffnung. Die Finanzkrise (turns Eurokrise turns „Migrationskrise“) ist wohl das jüngste Beispiel eines Ereignisses, durch das die Politik weltweit in einen Ausnahmezustand versetzt wurde und bei der es ansatzweise so etwas wie einen politischen Konsens gab – nämlich, dass gar keine Regulierung vielleicht zu wenig Regulierung sein könnte. Ihre Anfänge liegen nun etwas mehr als zehn Jahre zurück. Der Befund ist bislang alles andere als zufriedenstellend. Finanzielle Spekulation ist immer noch das täglich Brot der Finanzindustrie – von New York über London bis Singapur. Gefährliche, undurchsichtige Derivative (Termingeschäfte) sind immer noch im Umlauf, ohne dass Kleinanleger und Steuerzahler adäquat davor geschützt wären. Erst kürzlich musste die Europäische Wertpapierbehörde ESMA zwei strukturierte Finanzprodukte verbieten, die sie als extrem gefährlich und ein hohes Systemrisiko aufweisend einstufte (Googlesuche: „binary options“). Und Griechenland? Die verheerenden Folgen von Bankenlobbyismus, Austerität und Privatisierung kann man im Detail bei Yanis Varoufakis' vor anderthalb Jahren erschienenen Memoiren „Die ganze Geschichte2 nachlesen.

Es bleibt bei einem Zerren und Zanken zwischen Mitgliedsstaaten, dem EU-Parlament und der Kommission. Die Lobbypräsenz in Brüssel ist ungebrochen. Weitere institutionelle Reformen, die eine europäische Antwort auf die Finanzkrise erleichtert hätten, sind zwar vorangetrieben worden, der große Sprung aber ist ausgeblieben. Allenthalben „kleine Schritte“. Wie soll es bei der Klimakrise besser werden, wenn wir schon am Stresstest Finanzkrise gescheitert sind? Immerhin ging es bei letzterer sogar um Steuergelder – in der Theorie ein Katalysator für den Volkswillen.

Hoffnung

Die Lage ist dennoch nicht aussichtslos. Die Finanzkrise hat uns zwar alle betroffen – aber sie war abstrakt. Ihre Gründe, ihre Akteure, ihre Auswirkungen – das war alles komplex, ging über die Köpfe der „einfachen Bürger*innen“ hinweg, ein Thema für Fachpolitiker und VWL-Studierende. Bei der Klimakrise ist das anders, man braucht schließlich nur die Augen aufmachen und vor die Haustür gehen. Unter den augenblicklichen Umständen mag es zwar schwer sein, einen logisch sinnvollen Optimismus auszubilden. Doch das große Herz und die kleinen Schritte der protestierenden Schüler*innen, für die es ebenso wenig historische Präzedenzfälle gibt, machen Hoffnung darauf, dass wir als Gesellschaft über uns hinauswachsen und die „Politik der kleinen Schritte“ hinter uns lassen können. Schließlich gefährdet die Klimakrise zwar die Menschheit, aber die Geschichte von dieser ist in den Worten von US-Moderatorin Oprah Winfrey gerade eine davon, „wie wir sie überwinden“ – how we overcome.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Johannes J

Kill them with kindness. 26, Masterstudent in London, Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FU Berlin.

Johannes J

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