Wenn das Recht dem Menschsein im Weg steht

Sea-Watch 3 Wie der Fall Rackete das Recht an seine Grenzen bringt – und unangenehme Erinnerungen weckt

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Die Verhaftung Racketes ist mitnichten nur die Angelegenheit des italienischen Justizsystems
Die Verhaftung Racketes ist mitnichten nur die Angelegenheit des italienischen Justizsystems

Foto: Giovanni Isolino/AFP/Getty Images)

Carola Rackete, die Kapitänin der „Sea-Watch 3“, hat 52 Menschen im Mittelmeer vor Libyen das Leben gerettet – und dabei ihr Eigenes aufs Spiel gesetzt. Vergangene Woche ging ihr Schiff nach einer wochenlangen Hängepartie endlich vor Lampedusa an Land. Statt einen Orden gab es für Rackete nun einen Haftbefehl. Der Vorwurf: Hilfe zur illegalen Einreise. Nach dem geltenden italienischen Recht könnten die Anschuldigungen sogar im Bereich des Vertretbaren liegen. Der geltende internationale und europäische Rechtsrahmen schieben dem keinen zwingenden Riegel vor. Racketes Fall ist nicht nur eine weitere Episode im Trauerspiel des europäischen Versagens in der sogenannten „Migrationskrise“, sondern zeigt auch, dass wir auf dem Kontinent in puncto Gerechtigkeit und Menschlichkeit seit dem zweiten Weltkrieg nicht so weit gekommen sind, wie wir es gerne glauben würden.

„Al Presidente tedesco chiediamo di occuparsi di ciò che accade in Germania.“ Wir legen dem deutschen Präsidenten nahe, sich darum zu kümmern, was in Deutschland geschieht. Mit diesem Satz wies der italienische Innenminister – und de facto Machthaber – Matteo Salvini die Intervention von Frank-Walter Steinmeier ab, der das Verhalten der italienischen Sicherheitsbehörden kritisierte und sich damit in den bereits laut singenden internationalen Chor der Empörung eingereiht hatte. Die Einstellung Salvinis, der darauf verwies, dass es sich um eine italienische Sache allein handele, ist zynisch. Denn die Verhaftung Racketes ist mitnichten nur die Angelegenheit des italienischen Justizsystems, sondern – und das ist offenkundig – zugleich ein Problem der europäischen und internationalen Öffentlichkeit und geht somit uns alle – Frank-Walter inklusive – etwas an.

Dana Schmalz legt auf dem Verfassungsblog (Update: und nun auch im Freitag) dar, dass das geltende Völkerrecht Nationalstaaten nicht daran hindert, eigene Lösungswege für die Abgrenzung von Seenotrettung und „Schlepperei“ zu finden. Im aktuellen politischen Klima der Isolation wundert es nicht, dass die meisten nationalen Regelungen die Schlepperei weiter und die Seenotrettung enger definieren, als es beispielsweise die Vereinten Nationen tun – diese stellen sinnvollerweise auf die Absicht ab, einen kommerziellen Vorteil zu erzielen. Der entsprechende italienische Straftatbestand ist weit gefasst.

Wo wird Recht unerträglich?

Die bis zuletzt auf dem Schiff verbliebenen 40 Migranten sowie die Besatzung hatten laut Rackete zum Ende hin eine „unerträgliche“ Lage doch irgendwie ertragen müssen. Gleichermaßen muss Rackete nun das Walten von „Recht“ über sich ertragen, das unerträglich ungerecht erscheint. Spätestens hier denkt der Jurist an den wohl berühmtesten rechtsphilosophischen Satz des 20. Jahrhunderts. Gleichsam in der Stunde nach dem zweiten Weltkrieg formulierte der Sozialdemokrat und Professor Gustav Radbruch seine These, wie das Spannungsverhältnis zwischen positivem Recht und Gerechtigkeit aufzulösen sei. Nach seiner Radbruch’schen Formel, die seitdem mehrfach von der höchstrichterlichen Rechtsprechung bestätigt und auch während der Nürnberger Prozesse angewandt wurde, ist das positives Gesetz, also der vom Staat geschaffene Rechtssatz, auch dann anzuwenden, wenn es ungerecht und unzweckmäßig ist. Eine Ausnahme hiervon gelte aber dort, wo die Ungerechtigkeit des Gesetzes „unerträglich“ wird, wo es die im Begriff des Rechts grundsätzlich angelegte Gleichheit aller Menschen aus Sicht des Interpreten „bewusst verleugnet“ oder wo es noch nicht einmal das Ziel verfolgt, gerecht zu sein. In diesen Fällen habe der Richter die Gerechtigkeit über das geltende Gesetz zu stellen und letzteres für nichtig zu erklären bzw. nicht anzuwenden. Unter Anwendung dieser Formel erklärte das Bundesverfassungsgericht beispielsweise NS-Gesetze für nichtig, mithilfe derer der flächendeckende Kunstraub an Juden eigentumsrechtlich legitimiert wurde.

Dass die Radbruch'sche Formel vom bloßen Wortlaut her besehen weiten Interpretationsspielraum liefert – dem Begriff des Unerträglichen geht ein subjektives Element nicht ab, wodurch dem Richter theoretisch die Möglichkeit eröffnet werden könnte, sein eigenes Empfinden zum Maßstab zu nehmen – heißt nicht zwingend, dass ihre Anwendung auf Situationen von ,Transitional Justice‘ beschränkt bleiben muss und nur mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genoziden zusammen gedacht werden kann. Der Frage nach der „objektiven“ Unerträglichkeit – und damit dem Wesen der dem positiven Recht vorgelagerten materiellen Gerechtigkeit – ist sich über das kollektive (und zeitgenössische) Gerechtigkeitsempfinden zu nähern, und das ist wiederum eine empirische Aufgabe. Einer quantitativen Ausarbeitung bedarf es hierfür nicht, wie das breite Echo in Politik und Medien zu dem Fall zeigt. Neben dem Bundespräsidenten haben sich bislang u.a. Heiko Maas, Jan Böhmermann und auch der luxemburgische Außenminister Asselborn eingeschaltet und Racketes sofortige Freilassung gefordert. Asselborn schreibt: „Menschenleben retten ist eine Pflicht und sollte nie als ein Delikt oder ein Verbrechen eingestuft werden. Diese Pflicht nicht wahrzunehmen hingegen, wäre ein Verbrechen.“ Dass das italienische Recht bzw. dessen Auslegung durch das Innenministerium und die ihm unterstellten Sicherheitsbehörden diese Logik ins Gegenteil verkehrt, muss als unerträglich angesehen werden. Dass Salvini dies vehement von sich weisen wird – wie er die Causa gegenüber den Wählern und seiner Lega Nord zu instrumentalisieren gedenkt, ist abzusehen –, ist ebensowenig überzeugend wie die Einlassungen von Rudolf Heß während der Nürnberger Prozesse, dessen Verteidigungsstrategie es kurioserweise auch war, den Anklägern das Recht abzusprechen, sich mit „innerdeutschen Dingen“ zu befassen, die Ausländer nichts angehen würden.

Natürlich ist die positive italienische Rechtslage im internationalen Vergleich mitnichten eine außergewöhnliche Übertreibung. Das deutsche Aufenthaltsgesetz kennt ähnlich weite Straftatbestände. Zudem ist klar, dass in der Causa Rackete nicht allein der menschenverachtende Zynismus Salvinis, sondern auch die institutionelle Dysfunktionalität der EU und das Versagen der internationalen Gemeinschaft in der „Migrationskrise“ zum Ausdruck kommen. Nimmt man aber die Radbruch'sche Formel zum Maßstab – ihrerseits eine der größten moralischen Errungenschaften der Nachkriegszeit –, dann sind trotz der genannten Verschränkungen von Problemen und Akteuren die einzig adäquate politische und die einzig richtige rechtliche Lösung des Falles klar. Das Verhalten der italienischen Sicherheitsbehörden ist moralisch als unerträglich ungerecht zurückzuweisen. Ihr Handeln stellt kein Recht, sondern Unrecht dar und darf nicht positiv aufrechterhalten werden. Carola Rackete muss sofort freigelassen werden. Ihr gebührt unser Dank. Werden wir dem nicht gerecht, haben wir aus dem Grauen des zweiten Weltkriegs immer noch nicht genug gelernt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Johannes J

Kill them with kindness. 26, Masterstudent in London, Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FU Berlin.

Johannes J

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