Arbeiterkinder ohne Klasse

Literatur Der Journalist Marco Maurer schrieb ein Buch über die Diskriminierung der Arbeiterkinder im deutschen Bildungssystem. Nach Klassenkampf sucht man darin vergeblich

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Wer kommt weiter? Echte Bildungsgleichberechtigung liegt noch in der Zukunft
Wer kommt weiter? Echte Bildungsgleichberechtigung liegt noch in der Zukunft

Foto: MARTIN BUREAU/AFP/Getty Images

Die deutschen Schulen und Universitäten sind alles andere als eine Aufstiegsschmiede. Zu diesem Schluss kommt das Arbeiterkind bzw. der Journalist Marco Maurer in "Du Bleibt, was du bist: Warum bei uns immer noch die soziale Herkunft entscheidet“ anhand von zahlreichen Forschungsergebnissen und Interviews mit Experten und Expertinnen, sowie mit berühmten Aufsteigern, wie etwa dem Chef der Deutschen Bahn, Rüdiger Grube.

Maurers besondere Aufmerksamkeit für diese Aufstiegsschickeria – von Sigmar Gabriel bis Stefan Raab – kann und will jedoch nicht verhüllen, dass die Bilanz für die Mehrheit der Arbeiterkinder verheerend ist: Bildungspolitisch sei die Merkelsche Republik zurückgefallen "in die frühen sechziger Jahre“.

Identitätspolitik

Die gesamtgesellschaftliche Neoliberalisierung und Ökonomisierung, die den Aufstieg von Arbeiterkindern fast unmöglich werden lassen, werden lediglich beiläufig von Maurer erwähnt. Ohne auf die Ironie hinzuweisen, übrigens, dass es das Arbeiterkind bzw. der Altkanzler Gerhard Schröder war, der den sozialen Abbau maßgeblich vorantrieb.

Der Fall Schröder unterstreicht die Grenzen einer Arbeiterkind-Identitätspolitik, wie Maurer sie fordert. Dieser Ansatz stellt die Arbeiterkinder als Opfer dar und reduziert die Probleme auf Bildungsferne und fehlende professionelle Netzwerke. Probleme, die der Altkanzler eher nicht hatte.

Arbeiterkinder sollen ein größeres Stück des Gesamtkuchens ergattern, findet Maurer, ohne sich zu fragen, warum dieser Kuchen überhaupt so dürftig ist. Identitätspolitik fordert fast immer eine Quote und dementsprechend tut der Journalist es auch für Menschen aus bildungsfernen Familien. Die Frage, ob das auf Kosten von den anderen unterdrückten Identitäten gehen soll – Frauen, Schwarze, Schwule, behinderte Menschen und andere – wird leider nicht beantwortet.

Manchmal beschleicht das Gefühl, dass Maurer selbst ziemlich hadert mit den zentralen Slogans seines Buches. Wenige Autoren leisten sich bis zum Buchende ein 'Armwrestling' mit den eigenen Positionen, aber Maurer tut es. Vieles, was am Anfang des Buches für wichtig und richtig gehalten wird, stellt der Autor später in Frage. Was heißt es letztendlich, es 'geschafft zu haben', fragt Maurer sich, wenn er reflektiert, dass er, als angesehener freier Journalist der Süddeutschen Zeitung, Die Zeit und des Bayerischen Rundfunks, finanziellkaum über die Runden kommt? Ein Problem, das Schröder eher nicht haben wird.

Nach dem Begriff der Klasse sucht man im ganzen Buch vergeblich. Das ist ein riesiger Verlust. Gerade neuere Klassenforschungen, von Betsy Leondar-Wright beispielsweise, erlauben ausgefeiltere Aussagen über Ausdifferenzierungsprozesse innerhalb der Arbeiterschicht. Mit einem Begriff wie Klasse, ein Konzept des Kampfes, der Selbstermächtigung und der wissenschaftlichen Feinanalyse, hätten die Vielfalt (und auch die Gegensätze) von Arbeiterkindern sicherlich besser eingefangen werden können.

Klasse würde auch den Kampf einfangen, der für mehr Gleichberechtigung notwendig ist. Der Autor fordert 20 Milliarden Euro pro Jahr für mehr und besseres Personal in sämtlichen Bildungsbereichen. "Vermögensabgabe, Erbschaftsteuersatz und Spitzensteuersatz“ sollen das finanzieren.

Die dazu notwendige Umverteilung wird von Maurer einfachheitshalber fast ohne Antagonisten ausgekämpft. Wer und wo sind genau die Befürworter und die Gegnerinnen der Bildungsgleichberechtigung? Was haben Letztere zu gewinnen? Wir erfahren es zu selten, eben weil sich Maurers Arbeiterkinder in einem politischen Vakuum befinden, als käme ihre Unterdrückung aus dem Himmel gefallen.

Somit verkennt der Autor die deutsche gesellschaftliche Realität, die schon seit Jahrzehnten von einem erbitterten Klassenkampf von oben geprägt wird. Diese Realität äußert sich täglich in Diffamierungen von Armen, Arbeitslosen, Geflüchteten und eben auch Arbeiterkindern. Ohne das erneute Aufgreifen und die kontinuierliche Weiterentwicklung des Konzept der Klasse, drohen auch die zukünftigen Arbeiterkinder zu bleiben, wo und was sie sind.

Du bleibst, was du bist: Warum bei uns immer noch die soziale Herkunft entscheidet Marco Maurer Droemer Knaur 2015, 384S., 18 €

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Johnny H. Van Hove

Historiker, Brüsseler und Berliner. Autor des Buchs "Congoism: Congo Discourses in the United States from 1800 to the Present."

Johnny H. Van Hove

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