In einer besseren Welt wäre das Einführungsbuch "Einwanderung und Asyl" von Karl-Heinz Meier-Braun, Integrationsbeauftragter und Honorarprofessor für Politikwissenschaft, überflüssig. In einer besseren Welt wären Fragen über die Quantität und Qualität von Geflüchteten – die Hauptfaszination vieler Medien und der Politprominenz – eher ein Nebenschauplatz.
In dieser Welt wären Solidarität, Eigenverantwortung, Menschenrechte, Nächstenliebe oder wie auch immer man eine halbwegs affirmative Grundhaltung zu Einwanderung benennen möchte, der Maßstab für die Diskussion über Menschen, die aus guten Gründen ihre Heimat verlassen. Auch in Meier-Brauns Buch fehlt ein solcher, neuer Maßstab, der ebenfalls das Potenzial hätte, zur Versachlichung beizutragen.
Im Zentrum stehen dagegen Fragen, die bestenfalls aus den Federn wohlwollender Skeptiker und Skeptikerinnen stammen – Fragen eben, wie der Autor in seinem Vorwort erwähnt, die „nach Beiträgen in Funk und Fernsehen, nach Diskussionen und Vorträgen gestellt werden“.
Realitätssinn
Wie viele Ausländer gibt es in Deutschland, wie viele wollen noch zu uns kommen und brauchen wir sie überhaupt? So könnten die Hauptfragen des Buches zusammengefasst werden. Der Autor begegnet diesen zwar mit nüchternem Realitätssinn, wertet die teilweise unseriösen Fragen gleichzeitig aber auch auf.
Der Fragenkatalog fokussiert häufig – gemäß ihrer imaginierten, skeptischen Urheber – die Wirtschaft und die Nützlichkeit der Zuwanderer für Deutschland. Warum überhaupt auf diese fast pathologisch-obsessive, neoliberale Art über Asyl und Migration debattiert werden muss, fragt oder beantwortet das Buch kaum.
Was ebenfalls fehlt, ist die explizite Benennung der vielen Kontinuitäten innerhalb der langen, polarisierenden und ereignisreichen Einwanderungsgeschichte aus und nach Deutschland. Das stärkere Herausfiltern von dominanten Haltungen und Prozessen in der BRD hätte dem Buch sicherlich gut getan. In jedem Fall hätte es Lesern und Leserinnen einen griffigen Erwiderungsleitfaden auf rechte Parolen anbieten können. Stattdessen dominieren Zahlen.
Drei übergeordnete, implizite Kontinuitätslinien lassen sich dennoch herausarbeiten.
Kontinuität Nr. 1: Die Deutschen wandern gerne aus
In der Mitte des 19. Jahrhunderts, beispielsweise, machten es sich die etwa 120 000 deutschen Einwanderer in New York heimisch in 'Kleindeutschland'. Ob Bäckerin, Metzger, Apothekerin oder Pfarrer: Alle waren dort so deutsch wie Wurst und Sauerkraut. Die Einheimischen empfanden das zwar als ein episches Problem, genutzt hat ihr Gemotze allerdings nichts: Die Deutschen überquerten weiterhin fleißig den Atlantik. Bereits im 18. Jahrhundert war ein Drittel der Einwohner in Pennsylvanien deutscher Herkunft.
Nach dem 2. Weltkrieg wanderten Deutsche ebenfalls massiv aus, auch wenn häufig nur temporär. 100 000 machten sich im Schnitt jährlich auf den Weg, zwischen 2009 und 2013 sogar 700 000. Wenn man selbst so gerne das wohlhabende Land verlässt, sollte es nicht verwundern, wenn andere, aus bombardierten Gegenden beispielsweise, das Gleiche tun, könnte man Pegida-Anhängern folgerichtig mitteilen.
Kontinuität Nr. 2: Die Deutschen mögen keine Geflüchteten
Und zwar noch nie – egal von welchem Kontinent Geflüchtete kamen, egal mit welcher Religion. Menschen aus Italien, Spanien, Griechen, der Türkei und anderen trugen seit den Fünfzigern zwar erheblich zum Wirtschaftswunder bei, diffamiert wurden sie trotzdem, nicht selten mit nationalsozialistischer Rhetorik.
Meier-Braun erinnert auch an die 13 Millionen Geflüchteten des 2. Weltkrieges, die sogenannten Heimatvertriebenen, die nur extrem widerwillig wieder aufgenommen wurden. Aus der alten Heimat wurde die kalte Heimat. Meier-Braun: „Es hält sich die Legende, Heimatsvertriebene und Flüchtlinge seien rasch integriert worden. In Wirklichkeit waren sie keineswegs gleich willkommen, vielmehr Anfeindungen und Vorurteilen ausgesetzt.“
Die Deutschen tun sich offensichtlich schwer mit enteigneten, entwurzelten, hoch motivierten Menschen. Warum eigentlich? Besonders im Hinblick auf die letzte Kontinuitätslinie sei die Frage erlaubt.
Kontinuität Nr. 3: Die Deutschen wären ärmer ohne Zuwanderung
Einwanderer können die BRD nicht retten: Deutschland wird in den nächsten Jahrzehnten schrumpfen und altern, meint Meier-Braun. Ohne Ausländer wäre die demographische Katastrophe allerdings noch viel schlimmer. Wenn die acht Millionen Ausländer das Land verlassen würden, wären acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf einen Schlag weg, zusammen mit den 50 Milliarden Steuereinnahmen, die sie erarbeiten. Und die Gastronomie und Automobilwirtschaft Würden zusammenbrechen. „Die Migranten haben den deutschen Arbeitsmarkt bereichert und ihm neue Dynamik gebracht“, schreibt der Autor folgerichtig. Letztere Feststellung ist die vollendete Umkehrung des populistischen Mainstreams – Ohne Einwanderung schafft Deutschland sich irgendwann tatsächlich mal ab, lieber Herr Sarrazin. In einer besseren Welt, wäre das allen bewusst.
Fazit: Dieses Buch ist zwar eine gelungene Umkehrung des diskursiven Mainstreams, aber kein Schritt zur Erschaffung eines neuen und ausgewogeneren Diskurses. Solange man sich nicht komplett vom allgemeinen Blödsinn der Verwirtschaftlichung und Verdinglichung von Menschen lösen kann, bleiben die wichtigsten Fragen offen.
Die 101 wichtigsten Fragen: Einwanderung und Asyl Karl-Heinz Meier-Braun CH Beck 2015, 159 S., 10,95 €
Kommentare 8
Die gloreiche Alternative zu einem affirmativen, bejahenden Ansatz sehen wir jetzt -- polarisieren, verkrampfen, frontextisieren. Bzgl. "Eigenverantwortung": Ist es nicht ironisch, dass die deutschen Polit-Profeten des Neoliberalismus nun selbst ihre Verantwortung in der sogenannten 'Flüchtlingenkrise' auf die anderen versuchen abzuschieben (Ungarn, Slowenien, Rumänien, Griechenland, ...), wo Transitzonen etc. eingeführt werden sollen? Und was das arbeitsfreie Utopia betrifft: Das Ende der Rezension beantwortet diese Bemerkung bereits, glaube ich. Herzlich
Tja, Herr Van Hove,
den Hexenhammer gegen Pegida gibt es eben halt noch nicht...
Ich bin gerade ganz froh, wenn es noch Menschen gibt, die ihren nüchternen Realitätssinn behalten haben.
In eine ähnliche Kerbe wie das rezensierte Buch - scheint mir - schlägt dieser Beitrag: "Wir schaffen das! Schaffen wir das?"
An diesem Wochenende bekommt die Frage ja noch einmal politische Brisanz, warten wir es ab.
Wieso ist denn die Frage nach der Machbarkeit gleich Unmenschlichkeit? Man kann doch beides tun: Helfen und gleichzeitig Realismus bewahren. Diese Schwarz/Weiß-Malerei ist unerträglich. Die Bürger helfen wo sie können und der Staat macht sich mal langsam Gedanken wieviel Flüchtlinge wir aufnehmen können. Ich als Bürger möchte bitte auch gefragt werden wenn es darum geht - auch - mein Land unabänderlich zu verändern.
Am Ende ist die Sache eben auch schwarz-weiß, wenn es um Grundrechte geht (entstanden vor dem Hintergrund des 2. Weltkriegs/Holocausts). Sich "mal langsam Gedanken machen" geht einfach nicht, wenn es draußen nachts friert und die humanitäre Katastrophe bereits eingetreten ist. "Es ist nur eine Frage der Zeit, wann das erste Baby hier erfriert", heißt es seitens der Stabsstelle im Landkreis Passau." Siehe: https://www.facebook.com/ZDFheute/videos/10153723173950680/ Die Idee, dass aus Europa eine Festung gemacht werden kann, wie in diesem Video suggeriert wird, ist daher tatsächlich einfach undmenschlich, wie wir immer wieder feststellen können.
I
Hier in der dFC, werden Sie kaum einen entschiedenen Widerspruch ernten, wenn Sie völlig zu Recht betonen, dass die Verengung der Flüchtlingszuwanderung auf kurzfristige ökonomische Erwägungen und den Aspekt der Nützlichkeit oder Schädlichkeit für unsere Wirtschaft, falsch ist.
In den Augen der Zuwanderungskritiker und jener, die ganz andere Absichten mit dieser Kritik verfolgen (wir haben durchaus eine kleine und entschlossene Rechte im Land), sind das aber die, außerhalb ihrer ideologischen Welt zählenden Motive. Da ist es gut, wenn Karl- Heinz Meier-Braun es tatsächlich schafft, die passenden Fakten dagegen zu präsentieren.
Die Ökonomie ist sicher unser geringste Problem, weil selbst die derzeit sehr hohen Zuwanderungszahlen und die dafür nötigen Euro- Milliarden für die adäquate Integration, nur einen sehr geringen Anteil am Wirtschaftsaufkommen, selbst an den staatlichen Ausgaben, ausmachen.
Die schon jetzt absehbaren Zusatz-Kosten für nur zwei Großprojekte unseres Landes, BER und S21, übertreffen die nötigen Mittel für die adäquate Hilfe. Gäbe es beide Projekte nicht, keiner würde es in der Wirtschaftsbilanz oder beim anhaltenden Handelsbilanzerfolg Deutschlands gegenüber seinen Nachbarn und dem Rest der Welt merken. So, wie kein Bürger die Umlage der Kosten auf Steuern und Preise wirklich bemerken wird, die die gigantischen Fehlkalkulationen verursachten.
Zur Nützlichkeit haben Sie ja schon, mit Verweis auf das rezensierte Buch, passend geschrieben, dass die Integration eher positive Effekte hervorbringt.
II
Tatsächlich gab es entschieden Widerstand gegen Flüchtlingsstöme in der Vergangenheit (Vertriebene der ehemaligen deutschen Ostgebiete, z.B. in Schleswig-Holstein und Bayern) und Auswanderer (ehemalige SU, in Rheinland- Pfalz, NRW) und gegen die Arbeitsmigration, zuerst aus Italien Spanien und Portugal, aus Jugoslawien, dann vor allem aus der Türkei (Anatolien).
Heute gilt allerdings auch, dass Einwanderer oder Flüchtlinge aus diesen historischen Wellen, nun selbst Bedenken gegen die neuen, aus Not und Elend kommenden, Zuwanderer hegen. Das ist ebenfalls kein neues Phänomen. Es war z.B. schon so, als sich Italiener, Spanier und Portugiesen hier schon etabliert hatten und nun plötzlich türkische (anatolische) Mitbürger in großer Zahl auftauchten. - In Frankfurt am Main gab es von 2004- 2011 (Umbau) eine vorbildliche Dokumentation des historischen Stadtmuseums ("Von Fremden zu Frankfurtern") und die greifbaren Schriften dazu geben auch einen tiefen Einblick in die "Konkurrenz" der Zuwanderer, die nie ohne Konflikte blieb, bis sie sich doch legte. Seit Jahrzehnten betreibt das Institut für Stadtgeschichte ein Dauerprojekt, das vor allem diese hohe Integrationsfähigkeit und Leistung unserer Gesellschaft, trotz aller Schwierigkeiten belegt. Vorbildlich wird mit Methoden der "Oral History", aktuellen Veranstaltungen und sorgfältigen Publikationen zum Thema der Beweis geführt, dass Migration niemals den nationalen Weltuntergang einleitet. - Das macht eine nach außen und im Inneren aggressive und opportunistische Politik und eben eine allgemeine soziale Verantwortungslosigkeit, die ganze Gesellschaftsgruppen hoffnungslos werden lässt.
III
Sehr optimistisch bin ich, dass sich die gegenwärtigen Schwierigkeiten lösen lassen und die große Mehrheit der Bürger der Integration aufgeschlossener gegenüber stehen, als aktuell befürchtet wird.
Deutschland hat alle vorherigen Wellen integriert und damit eben auch die Erfahrung, dass es und wie es zu schaffen ist.
These 2 ihres Blogs erscheint mir daher allzu zugespitzt. "Mögen" setzt ja kennen und kennenlernen voraus, ist also ein deutlich langzeitigerer Prozess, als die Aufregung der gezeigten Ablehnung und die Gewaltkriminalität gegen Heime dies vermuten lassen.
Die strikt ausländerfeindlichen und rechten Kräfte werden eine kleine Minderheit bleiben.
Erstaunlich waren und sind schon die vielen Vertrauens- und Freundlichkeitsbeweise, gerade von Bürgern, die sich bisher in diesen Fragen gar nicht engagierten.
Das Phänomen der eher instinktiven und irrationalen Ablehnung von Fremden, ist heute nicht mehr das Ergebnis ideologischer und fester, auch weitergegebener, persönlicher Grundüberzeugungen. Es gibt keine Indoktrination mehr vom überlegene Deutschtum (ein durchgängiges Motiv aus dem 19.Jh, bis zum Dritten Reich).
Die Ablehnung speist sich stattdessen, was international und allgemein ist und kein Spezifikum Deutschlands darstellt, wie man zum Beispiel derzeit in Osteuropa, besonders in Polen beobachten kann, aus Furcht, Unkenntnis und grundsätzlicher Angst vor neuen Gegebenheiten. In Polen kommt ein wieder aufkeimender Nationalismus noch hinzu.
IV
Auch wenn es wohlgemeint ist. Das demografische Argument, von strikten Migrationsgegnern und Migrationsbefürwortern gleichermaßen verwendet, taugt nicht. Es ist ebenso nebensächlich, wie die derzeit ins Kraut schießenden Dichtebetrachtungen.
Historisch gibt es keine wirklich stichhaltigen, vor allem sich gesetzmäßig wiederholenden Sachverhalte, die eine optimale Bevölkerungsdichte oder einen optimalen Alterungsaufbau der Gesellschaften, als Grundlage für den (wirtschaftlichen) Erfolg oder Misserfolg einer Gesellschaft plausibel machen. - Wissen Sie von einer historischen Gesellschaft, in der das wirklich eine Rolle spielte, außer vielleicht diejenige der Inselgesellschaft Rapa Nui?
Vielen Dank für ihr Blog. Sie sehen, es regt zur Verfertigung eigener Gedanken an.
Gutes Wochenende
Christoph Leusch
PS: Auf ihrer Webseite haben Sie die interessante Diskussion zu Koran, 4:34 eingestellt (>>Muslim feminists call for a holistic, wide reading of the Qur'an to reach a balanced, non-patriarchal conclusion about its embattled verse 3:34.<<), aber in der Überschrift, wie zitiert, versehentlich 3: 34 geschrieben. Es könnte Leser dazu anleiten, verzweifelt an der falschen Stelle zu suchen.
PS II
Ich wünschte mir, sie beteiligten sich zukünftig regelmäßig an der dFC. Bleiben Sie dabei und berichten Sie doch auch von Grassroots.
vielen Dank für den Hinweis und für die vielen Ideen und Anregungen!! Herzlich
Ist denn Schrumpfen überhaupt schlecht? Ich verstehe nicht diesen neoliberalen Wachstumsduktus. Mir wäre es am liebsten, wenn wir überhaupt keine Integrationsprobleme haben und die Menschen in ihren Ländern bleiben könnten. Mich interessiert auch gar nicht, was gut für Deutschland ist, weil ich nicht diese nationalistische Perspektive teile. Je mehr Einwanderer, desto mehr Konflikte, desto mehr die Gefahr eines Rechtsrucks und Unfriedens im Land, das will ich nicht. All das kann produktiv sein, aber das ist wie die zivilisationssatten Leute sich am Vorabend des Weltkriegs den Krieg herbeisehnten. Ich will einfach nur Ruhe haben. Ich möchte keine Kulturkrisen. Eine Kanzlerin, die sich um Flüchtlingsprobleme und Währungskrisen kümmern muss, hat keine Zeit die Verhältnisse im Lande zu verbessern. Wir schaffen uns aus Großmannssucht diese ganzen Probleme, weil wir nicht uns selbst genügen wollen. Und wenn wir scheitern, dann kommen die rechten Rattenfänger aus den Löchern. Das will ich alles nicht. Keinen konservativen Islam, keine rechten Spinner, keine fremden Sitten, keine doitschen Weltmachtsträume. Einfach nur Ruhe.