Die Rache der Arbeiter

Rechtspopulismus Wie ticken die Arbeiter, die europaweit als rechtsextremes Wahlklientel von sich hören lassen? Didier Eribon, selbst Arbeiterkind, schrieb ein faszinierendes Buch darüber

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Die Rache der Arbeiter

Foto: Jeff Pachoud /AFP / Getty Images

In Österreich wählten 86% der Arbeiter den rechtsextremen Bundespräsidentschaftskandidaten Norbert Hofer. In Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Deutschland heißen die populären rechten Kandidaten Le Pen, Dewinter, Wilders und Petry. Warum werden sie so häufig von der Arbeiterschaft unterstützt? Eribons Rückkehr nach Reims – ein Buch aus dem Jahr 2009, das nun in der hervorragenden Übersetzung von Tobias Haberkorn auf Deutsch vorliegt –, bietet sowohl eine biographische wie auch eine politische Auseinandersetzung mit der französischen Arbeiterklasse und wandelt dabei kontinuierlich und scharfsinnig auf den Spuren ihrer gesellschaftspolitischen Umbrüche: Von Kommunisten hin zu Front National-Anhängern.

Die Ausgangslage des Buches ist ein persönliches Drama. Als sein Vater stirbt, ist Eribon nach jahrzehntelangem selbstgewählten Exil gezwungen, das alte Arbeiterviertel in der Nähe von Reims zu besuchen. Den Ort hatte der Soziologe als Jugendlicher mit voller Überzeugung für Paris eingetauscht. Die Rückkehr in die Provinz löste bei Eribon eine „Umkehr, eine Rückbesinnung, ein Wiedersehen mit einem ebenso konservierten wie negierten Selbst“ aus. Was auf den ersten Blick in eine psychologische Nabelschau über eine „Gegend seiner selbst“ abzudriften droht, mündet im Gegenteil in eine vielschichtige, wundervoll kritische Reflexion über den Einfluss der sozialen Welt auf die Subjektkonstitution sowie über die konkrete politische Entwicklung und Lage der Arbeiterschaft innerhalb der französischen Gesellschaft.

Gegen die Massenoligarchie

Anhand seiner Rückkehr fragt der Autor, welchen Anteil die „offizielle Linke“ an der Tatsache trägt, dass seine Familie nun das Front National wählt, während sie in seiner ganzen Kindheit die Kommunisten unterstützten. Das Versagen der Linken sei ein wichtiger Teil der Antwort, besonders das der Parti Socialiste. Erst leugneten die Sozialdemokraten die Existenz von Klassen und sozio-ökonomischer Unterdrückung, die zunehmend durch das Konzept der individuellen Verantwortung im politischen Diskurs abgelöst wurden. Daraufhin schrieb sich die Partei gänzlich in das Projekt des Sozialabbaus ein – eine Politik, die bis heute konsequent verfolgt werde.

Radikale linke Kreise, wiederum, die sich vehement gegen die Sozialdemokratie wehrten, reduzierten Arbeiterinnen und Arbeiter all zu häufig auf politische Chiffren. Linke Intellektuelle betteten sie in hoch komplexe Theoretisierungen ein, mit dem Ergebnis, dass die historische Arbeiterbewegung lediglich mit ihren Kämpfen und Traditionen erhalten bleibe; die individuellen ArbeiterInnen hingegen – die Tatsache, dass sie „existieren, dass die leben, dass sie etwas denken und wollen“ – verschwanden zunehmend. Es ist sicherlich kein Zufall, dass Eribons Beschäftigung mit linker Klassentheorie zur endgültigen Befremdung gegenüber seinen Eltern führt, deren Verständnis von linker Politik eher pragmatischer Natur war und das sich fast ausschließlich an lokalen Alltagsproblemen orientierte. Nicht ohne Bedauern gibt der Autor zu: „Mein jugendlicher Marxismus war also ein Instrument meiner eigenen sozialen Desidentifikation. Ich glorifizierte die Arbeiterklasse, um mich leichter von den realen Arbeitern abgrenzen zu können.“

Eribon geht gnadenlos kritisch mit den französischen Salonsozialisten ins Gericht. Auch wenn er manchmal zu pessimistischen Verallgemeinerungen über die anti-linke Stimmung vieler Arbeiter und Arbeiterinnen neigt, gibt ihm die politische Realität zunehmend recht: Die linke Wählerschaft läuft heute scharenweise zum rechtspopulistischen Klassenfeind über. Sie tue das primär aus Notwehr und Opposition gegenüber der dominanten Massenoligarchie, wie Emmanuel Todd die Klassen oberhalb der traditionellen Arbeiterklasse in seinem sehr lesenswerten Buch Wer ist Charlie? nennt, die ihr akzeptables Bildungsniveau und Einkommen auf Kosten der populären Schichten durchsetze. Ein weiterer Grund ist, so führt Eribon an, dass die Arbeiterklasse keineswegs dazu prädestiniert sei, links oder progressiv zu wählen: Ein Denkfehler, der bis heute unter vielen Linken herrsche. Am Ende seien Rechtspopulisten in erster Linie sehr erfolgreiche Einfänger und Verstärker der negativen Passionen der Arbeiterklasse, die im Kontext ihrer zunehmend schwierigen sozio-ökonomischen Lage entstehen. Dieser Umstand wird besonders vor dem Hintergrund Eribons eigener Familiengeschichte deutlich.

Unterwerfung als Rettung

Eribon zeigt sich als ein differenzierter Chronist seiner Familiengeschichte, die er harsch und liebevoll wiedergibt und durch den sozio-politischen Fleischwolf zieht. Seine Eltern, Fabrikarbeiter mit homophoben und rassistischen Tendenzen, lebten vor den Augen ihrer Kinder einen hysterischen „Ehewahnsinn“ aus. Dadurch verkörpern sie, so verlautbart der Autor, nichts weniger als „eine Art negatives soziales Modell“. Besonders auf den Vater treffe das zu, dessen Aggressionen, psychotisches Gehabe und alkoholische Ausbrüche nichtsdestotrotz vom Autoren empathisch reflektiert werden. Unerbittlich und ehrlich sind Eribons Geschichten, und dennoch wird die Leserschaft nicht zum Voyeur einer Geschichte eines Selbsthassers gemacht. Dafür ist Eribons Gangart einfach zu analytisch, auch wenn die Geschichte eine persönliche ist.

Das Leitthema des biographischen Narratives ist die Zerrissenheit, die Persönlichkeitsspaltung, das doppelte Bewusstsein des Arbeiterkindes. Durch einen Filter aus literarischen, theoretischen und politischen Referenzen wird dieser Umstand bestechend aufgearbeitet. Der Autor ist kein politischer Held, so viel wird deutlich, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut, der versucht zu überleben und etwas aus dem zu machen, was man aus ihm gemacht hat. Vermenschlichung ist ein sorgfältig erzeugter Effekt, der sich im ganzen Buch manifestiert. Auch in der Frage, warum ausgerechnet er den Bildungs- und Berufsaufstieg geschafft hat (Eribon ist zur Zeit Professor an der Universität von Amiens), trotz seines eingetrichterten Sarkasmus', seiner Verachtung gegenüber bürgerlichen Selbstverständlichkeiten und seiner oppositionellen Haltung? Seine persönliche Antwort: Entweder konnte er seinen widerspenstigen Reflexen freien Lauf lassen, und riskierte damit potentiell eine sinnvolle berufliche Karriere, oder er musste sich dem Wertekanon, der Redeweise und den Argumentationsmustern der Bürgerlichen beugen und anpassen. „Widerstand hätte meine Niederlage bedeutet. Unterwerfung war meine Rettung“, schreibt der Autor folgerichtig.

Die Rückkehr zur Arbeiterklasse muss erfolgen, so Eribon, aber es werde ein steiniger Weg. Dieses Buch ist ein wichtiger Schritt, indem es zu radikaler Selbstkritik und - Reflexion aufruft. Gleichzeitig errichtet es ein literarisches Monument für die Ursprungsklasse – ambivalent, deprimierend, hoffnungsvoll, nachdenklich und menschlich. Wie die Arbeiterklasse selbst, kurzum.

Rückkehr nach Reims Didier Eribon Suhrkamp 2016, 240S., 18€

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Geschrieben von

Johnny H. Van Hove

Historiker, Brüsseler und Berliner. Autor des Buchs "Congoism: Congo Discourses in the United States from 1800 to the Present."

Johnny H. Van Hove

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