Nothing Neues in der deutschen Klassentheorie

Rezension Das Buch „Nothing in Common“ reflektiert das Thema soziale Klasse in der deutschen Linken. Zeitgemäß ist das Werk, im Gegensatz zu englischsprachigen Pendants, kaum

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Lenin, Marx und weitere Größen des Linken Standardprogramms passieren Revue, herausgefordert wird deren Tradition jedoch nicht
Lenin, Marx und weitere Größen des Linken Standardprogramms passieren Revue, herausgefordert wird deren Tradition jedoch nicht

Foto: ALEXANDER JOE/AFP/Getty Images

In den Vereinigten Staaten und Großbritannien werden gelegentlich grundlegende und sehr lesenswerte Studien über soziale Klasse öffentlich debattiert. Class in the 21st Century von Mike Savage ist so ein Buch. Anhand einer breiten BBC-Umfrage zeigt Savage überzeugend auf, dass die Insel eine 7-Klassengesellschaft ist, die in dauerhaften Klassenkämpfen gefangen sei.

Weit Vorne im Klassenkampf stünden demnach eine Million reicher BritInnen, ungefähr 6 Prozent der Bevölkerung, die alle anderen Klassen wirtschaftlich, kulturell und sozial überflügeln und abhängen. Nicht nur deswegen sei, laut Savage, Großbritannien zutiefst gespalten. Auch die Klassen unterhalb dieser 6 Prozent stehen sich wie Fremdkörper gegenüber, vom Prekariat und der traditionellen Arbeiterklasse über die etablierte Mittelschicht bis hin zur technischen Mittelklasse. Die klassische, marxistische Klassenaufteilung – Proletariat vs. KapitalistInnenklasse – wird hier überzeugend problematisiert und aktualisiert.

In Deutschland ist die Frage der sozialen Klasse(n) kein breit diskutiertes, empirisches Thema, sondern sie ist vielmehr ein Linkes, theoretisches Kampfkonstrukt, in dem die veränderten Realitäten des 21. Jahrhunderts (wie Mike Savage sie beschreibt) eher langsam einsickern. "Nothing in Common? Differenzen in der Klasse" von Torsten Bewernitz, eine Aufsatzsammlung des Autors, ist dafür geradezu exemplarisch.

Schmucker Titel, modernes Layout, reizvolle Marketingtexte: Der Verlag edition assemblage hat offenkundig versucht, das Buch von Bewernitz für ein breiteres Publikum attraktiv zu machen. Der Inhalt suggeriert allerdings zügig, dass dieses Werk hauptsächlich Eingeweihte der marxistischen Theorie als Zielgruppe fokussiert. Lenin, Marx und weitere Größen des Linken Standardprogramms passieren mehrmals Revue, gelegentlich flankiert von Bourdieu. Gekonnt werden sie diskutiert, sicherlich, aber die Relevanz viele dieser Intellektuellen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert für heute muss erst einmal hergestellt werden – gegeben ist sie lange nicht.

Der Autor tritt regelmäßig offene Türen ein. Die breiteste aller Türen ist die Erkenntnis, dass soziale Klassen sehr heterogen seien. Pluralität innerhalb der (binär gedachten) Klassen ist mittlerweile so mainstream, dass es sogar im Parteiprogramm der Partei die Linke auftaucht: „Unterschiede im Einkommen, der beruflichen Stellung, der Qualifikationen, familiäre Herkunft und verschiedene Migrationshintergründe prägen die verschiedenen Milieus der Lohnabhängigen“, liest man dort. Bewernitz bewegt sich also brav im bestehenden Linken, marxistisch angehauchten Diskurs, in dem die plurale Gruppe des Proletariats bzw. der ArbeiterInnen den ebenso heterogenen KapitalistInnen gegenübersteht. Mit der Wirklichkeit hat diese Dichotomie kaum noch etwas zu tun, wie Mike Savages oben erwähntes Buch vermuten lässt. "Nothing in Common" ist somit eine verpasste Chance, um die (längst fällige) deutsche Klassentradition herauszufordern.

Nothing in common? Differänzen in der Klasse Torsten Bewernitz edition assemblage 2015, 212S., 16.80€

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Johnny H. Van Hove

Historiker, Brüsseler und Berliner. Autor des Buchs "Congoism: Congo Discourses in the United States from 1800 to the Present."

Johnny H. Van Hove

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden