"History is Unwritten" heißt die 400-seitige Dokumentation der gleichnamigen Konferenz aus dem Jahr 2013. Mit dem griffigen Titel des "Lesebuchs" weist das Berliner AutorInnenkollektiv Loukanikos auf die "Glättungen und Auslassungen" in der Mainstreamgeschichtsschreibung hin: Soziale Kämpfe, die Unterdrückten sowie die Opfer von Verbrechen würden zu selten fokussiert, schreiben die Herausgeberinnen und Herausgeber mit Recht.
Zur selben Erkenntnis kamen auch Howard Zinn oder Edward P. Thomson in der Hochphase der linken Geschichtsschreibung in den 1960er bis 1980er Jahren, wie David Mayer in seinem sehr lesenswerten Überblick über das Thema des Buchs erörtert. Mayer macht sich außerdem für die Neuorientierung klassischer Themen stark – wie die Geschichte des Kapitalismus, der DDR, der Arbeiterbewegung und der verschiedenen Revolutionen und Revolutionäre – , die in der konservativ-neoliberalen Gegenwart womöglich eine noch größere Relevanz besitzen. Dabei plädiert der Autor dafür, mehr neuere Ansätze zu verwenden: Globale Perspektiven seien genauso notwendig wie die Aufmerksamkeit für Gender und Ethnizität, Kolonialismus und Eurozentrismus.
Mayer versucht zu vermitteln, dass linke Geschichtsschreibung weit innovativer und weitsichtiger sein könnte, ja sein müsste, als sie heute ist. Wie notwendig diese Forderung ist, verdeutlicht die Mehrheit der restlichen Beiträge. Die punktuelle Aufmerksamkeit für Hausbesetzer, Lesben, postmoderne Theorien und kritische Initiativen kann nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass die traditionellen historischen Hauptfiguren der linken Geschichtsschreibung auch in diesem Band recht eindimensional eingefangen werden. Personen aus Fleisch und Blut werden allzu häufig zu widerspruchslosen politischen Chiffren des Widerstands reduziert oder viktimisiert. Wolfgang Uellenberg-van Dauwens Aufsatz beispielsweise zweifelt aus gutem Grund daran, das die deutschen Arbeiter "jubelnd" in den 1. Weltkrieg zogen, wie die bürgerliche Historiographie es darstellt. Sein eigenes Narrativ allerdings ist genauso unrealistisch: Arbeiterinnen und Arbeiter hätten dem Krieg fast ausnahmslos skeptisch gegenübergestanden.
Wie Linke mit Mythen umgehen sollen, ist folgerichtig eine zentrale Frage des Bands. Die Antworten der Autorinnen und Autoren oszillieren zwischen Dekonstruktion und Konstruktion der eigenen Mythen und bleiben bis zum Schluss ungelöst und relativ spannend – für Insider. Denn wie dieser Band mit seiner bisweilen unleserlichen, hoch spezialisierten Mischung aus akademischen und politischen Diskursen die Zugänglichkeit und Relevanz "für möglichst viele Menschen" erzeugen will, ist ein Rätsel. Der notwendige frische Wind (besonders auf der Ebene der Themenfindung und der Vermittlung) wird zwar konsequent gefordert, doch kaum umgesetzt. Der Beitrag von Bernd Hüttner, Referent für Zeitgeschichte und Geschichtspolitik der Rosa Luxemburg Stiftung, zeigt implizit einen wichtigen Grund auf, weshalb die thematische Erneuerung so schwierig ist. Die Stiftung selbst – eine wichtige Finanzierungsquelle linker Geschichtsarbeit – investiert nämlich besonders stark in die traditionellen Themen, obgleich sie künftig gerne intersektionale, postkoloniale Forschung über neuere sozialen Bewegungen stärken wolle.
Die Herausgeber scheitern mit ihrem Bestreben, das Verschwinden der Ergebnisse der Konferenz "in der akademischen Asservatenkammer" zu verhindern. Das sogenannte "Lesebuch" lädt kaum zum "Flanieren und Umherschweifen" ein: Dafür ist die Sprache zu hölzern, die Inhalte und Ideen zu redundant und die Diskussion zu verwissenschaftlicht. Kurzum, die Aufsätze verdeutlichen, dass die linke Geschichtsschreibung – wenn sie wieder breiter rezipiert werden soll – dringend neue Impulse braucht, und zwar auf allen Ebenen: von der Sprache über die Themen bis hin zu Offenheit für neue theoretischen Perspektiven und Ansätzen.
History is Unwritten: Linke Geschichtspolitik und kritische Wissenschaft. Ein Lesebuch AutorInnenkollektiv Loukanikos (Hg.) Edition assemblage 2015, 400S., 19,80 €
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Als Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1985 aus Anlass des 40. Jahrestages des Kriegsendes den 8.Mai 1945 als „Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ bezeichnete, fand er sowohl in Deutschland als auch im Ausland überwiegend Zustimmung. Wenn heute Bundespräsident Joachim Gauck 75 Jahre nach dem Überfall auf die Sowjetunion auf die 27 Millionen Opfer als Folge des von Deutschland im Osten geführten Vernichtungskrieges verweist und die bedeutende Rolle der Sowjetunion in der Anti-Hitler-Koalition betont, dann verdient das Anerkennung. Es sollten jedoch auch die unermesslichen materiellen Schäden nicht vergessen werden, die beim Vormarsch deutscher Truppen angerichtet wurden und zu Verwüstungen führten sowie die beim Rückzug praktizierte Taktik der verbrannten Erde.
Das rasche Vordringen der Roten Armee hat die Kriegsdauer verkürzt, so dass die ersten Atombomben, die im Mai noch nicht einsatzfähig waren, nicht über Deutschland abgeworfen werden konnten, sondern in Japan zum Einsatz kamen.
Mit Rücksicht auf die völkerrechtswidrige Kriegsführung nach dem Überfall auf die Sowjetunion sollte sich Deutschland an den Manövern der NATO in Polen nicht beteiligen. Frank Walter Steinmeier hat recht, wenn er vor Säbelrasseln und Kriegsgeheul warnt.
Durch den Kalten Krieg und die politische Ausrichtung der BRD, wie auch die Säuberungen an den ostdeutschen Unis nach 89 hat sich die Geschichtswissenschaft nicht frei entwickeln können.
Gauck hat im letzten Jahr bei seiner Rede für die sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter bereits auf die Schwachpunkte der historischen Aufarbeitung unserer Beziehungen zur Sowjetunion am Beispiel dieser Personengruppe hingewiesen. Ich kann mich erinnern, dass ich erst vor ca. 5 Jahren eine Doku über das Schicksal der von der deutschen Armee eingeschlossenen Leningrader Bürger erfahren habe. Die Doku wurde nachts im TV gesendet. Historisch oder politisch brisante TV Sendungen kommen entweder sehr früh morgens oder um Mitternacht.
Aus meiner Sicht hat die prowestliche neoliberale Ideologie die historische Forschung eingeengt. Das Resultat sind Schmalspurdenken und eingeschränkte Handlungsoptionen.
http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2015/05/150506-Holte-Stukenbrock.html
Der Dietz Verlag hat seinerzeit ein großes Projekt mit der Herausgabe „Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18.Jahrhunderts“ auf den Weg gebracht. Dieses bis heute nicht abgeschlossene Projekt, als Mainstreamgeschichtsschreibung leichtfertig zu etikettieren, träfe daneben. Der Herausgeber der Bände war der großartige Historiker Gerhard A. Ritter. Freilich auch wenn einge Bände bereits vergriffen sind und Heinrich August Winkler, der eben auch Abhandlungen beigesteuert hat (Der Schein der Normalität. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1924 bis 1930.Berlin/Bonn ²1988 & Der Weg in die Katastrophe. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1930-1933. Bonn ²1990) nicht als Linker zu bezeichnen, stimmt es deshalb, wie Sie meinen, „die Herausgeberinnen und Herausgeber mit Recht schreiben, „Soziale Kämpfe, die Unterdrückten sowie die Opfer von Verbrechen (würden) zu selten fokussiert“? Das Gesamtprojekt mit all den vielen Bänden und Autoren wie Jürgen Kocka, Michael Schneider ist doch guter „Ausfluss“ der 68ziger Bewegten! Hans Mommsens gesammelte Aufsätze zur Arbeiterbewegung und Nationale Frage, Göttingen 1979 sind ebenso wenig Ausdruck einer vermeintlich desinteressierten „Geschichtsschreibung“.
Was es schwer macht zu folgen, ist, dass 1. nicht klar ist, was mit „links“ gemeint ist und 2. auf welchen Zeitabschnitt die Autoren sich beziehen, welche Gesellschaften und Volkswirtschaften sind gemeint. Wer zählt heute als „Arbeiter“! Die Frage ist umso berechtigter, da Peter Hübner bereits in seinem in der Dietz-Reihe erschienen Band 15 Arbeit, Arbeiter und Technik in der DDR 1971 bis 1989. Zwischen Fordismus und digitaler Revolution. Bonn 2013 allein in Bezug auf die späte DDR fragt, „ob es noch eine Arbeiterklasse in der späten DDR“ gab, da „im Laufe der 1970er- und 1980er-Jahre die ostdeutschen Arbeiter fast unmerklich ihren ursprünglichen Charakter und Zusammenhalt als soziale Formation“ verloren und (…) „durch die »digitale Revolution« in den Mahlstrom eines technischen Innovationsschubs“ gerieten.
zu bezeichnen ist