Als das Bundesverfassungsgericht im Februar entschied, dass die ALG-II-Sätze verfassungswidrig sind, gab sich Ursula von der Leyen nach außen hin zufrieden. Die Bundesarbeitsministerin sagte, es sei ein wegweisendes, ein bahnbrechendes Urteil. Kurz zuvor hatten die Richter scharfe Worte gewählt, um dieses Urteil zu begründen: Die Entscheidung, welche Ausgaben zum Existenzminimum gehören, müsse der Gesetzgeber sachgerecht treffen. Wolle er bestimmte Ausgabepositionen kürzen – etwa um den Regelsatz für Kinder im Vergleich zu dem von Erwachsenen zu bestimmen – bedürfe das einer empirischen Grundlage. Überhaupt habe der Gesetzgeber bisher einfach „ins Blaue hinein“ geschätzt.
Für einen Erwachsenen beträgt d
ägt der Regelsatz momentan 359 Euro. Die Richter beanstandeten zwar nicht die Höhe dieses Betrags, forderten für seine Berechnung jedoch mehr Transparenz. Und die Arbeitsministerin freute sich für die Kinder, die mit dem neuen Gesetz nun endlich bessere Bildungsmöglichkeiten erhalten sollten. Richtig viel Spaß hatte Ursula von der Leyen mit dem „bahnbrechenden Urteil“ aber bisher nicht. Heftige Kritik schlug ihr schon für den Vorschlag einer Bildungschipkarte für arme Kinder entgegen. Eine Umsetzung des Konzepts in wenigen Monaten wird inzwischen selbst von ihren eigenen Leuten als „Illusion“ abgetan.Nun hat die Arbeitsministerin das neue Berechnungskonzept für die Hartz-IV-Sätze vorgestellt, konkrete Zahlen will sie am Montag nachliefern. Fest steht: Das Arbeitslosengeld II soll künftig anders berechnet werden als bisher, es soll von den Renten ent- und an die Lohn- und Preisentwicklung gekoppelt werden und damit jährlich steigen. Auch wird es neue Komponenten enthalten, etwa die Kosten für einen Internetanschluss oder die Praxisgebühr beim Arzt.Zahlenwust statt WurstDas Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat die Debatte über die Höhe des Existenzminimums erneut entfacht. Herumgesprochen hat sich nun, dass nicht mehr ein echter Warenkorb mit Schmierkäse und Blumenkohl Grundlage der Zumessung ist, sondern ein Wust aus Prozentsätzen dessen, was das unterste Einkommensfünftel der deutschen Gesellschaft konsumiert: ein abstrakter Warenkorb sozusagen. Wer diesen Ansatz bewerten will, kann ihn mit dem im europäische Ausland vergleichen.Sozialwissenschaftler sprechen oft von vier Sicherungsmodellen für Europa: Dem skandinavischen, kontinentaleuropäischen, südländischen und angelsächsischen Modell. Während in Skandinavien allen Bürgern gleiche, steuerfinanzierte Sicherungsleistungen zustehen, sind im kontinentaleuropäischen Modell, zu dem Deutschland gezählt wird, steuerfinanzierte Fürsorgedienste erst das letzte Netz der sozialen Sicherung.Schon hieran wird deutlich: Das Problem an internationalen Vergleichen ist, dass sich sozialstaatliche Leistungen überall unterschiedlich zusammensetzen und auch ihre Summe nur bedingt etwas über die Lebensqualität der Leistungsempfänger aussagt. Dennoch lohnt ein kleiner Überblick.551 Euro pro Monat – für 500 TageIn Dänemark etwa, sollte man meinen, haben Arbeitslose keinen Grund, sich zu beschweren. Bis zu 90 Prozent des letzten Gehaltes können sie dort erhalten. Das liest sich zunächst beeindruckend, setzt aber voraus, dass es sich um ein verheiratetes Paar handelt, beide arbeitslos, mit zwei Kindern. Ein Alleinstehender bekäme knapp 60 Prozent des letzten Lohns – auch nach fünf Jahren Arbeitslosigkeit. Das ist deutlich mehr als in Deutschland, doch lohnt auch hier ein Blick auf die Details.So hat die Arbeitslosenunterstützung in Dänemark zum Beispiel eine Höchstgrenze von umgerechnet 2190 Euro pro Monat, wovon bis zu 35 Prozent Steuern zu zahlen sind. Außerdem muss der Arbeitslose zwei Bewerbungen pro Woche abliefern und jede Arbeit annehmen, die er angeboten bekommt, sofern er zu der neuen Arbeitsstelle und zurück nicht länger als insgesamt drei Stunden täglich fahren muss.In Finnland beträgt der Regelsatz der Arbeitslosenhilfe knapp 551 Euro pro Monat für Kinderlose. Gezahlt wird dieser Betrag aber nur 500 Tage, danach kann man Sozialhilfe beantragen. Wie genau die Sätze berechnet wurden, kann Jaakko Ellisaari, Senior Officer des finnischen Ministeriums für Soziales und Gesundheit gar nicht mehr sagen. Seit Jahren stehe das so im Gesetz. Er rechnet dafür vor, wie sich die Sozialhilfe zusammensetzt: 417 Euro setzen die Finnen als monatliche Ausgaben eines Alleinstehenden fest. Wer im Monat weniger als diese 417 Euro zur Verfügung hat, nachdem er Miete bezahlt hat, bekommt die Differenz vom Staat. Hinzu kommt Geld für Medikamente, das Arbeitslosen bezahlt wird.Gemischte SystemeFrankreich wiederum hat im letzten Jahr seine Sozialhilfe durch die soziale Mindestsicherung ersetzt. Sie heißt nun Revenu de Solidarité Active, kurz RSA und gewährt einem Alleinstehenden ohne Kind etwa 455 Euro im Monat. Der RSA berechnet sich als Bruchteil vom gesetzlichen Mindestlohn, der in Frankreich 1.321 Euro beträgt.Rumänische Sozialhilfeempfänger haben Anspruch auf kostenlose medizinische Sachleistungen. Spezielle Leistungen für Alte oder Invalide gibt es dort jedoch nicht. Wer in Rumänien arbeitslos wird und für lange Zeit keinen Job findet, bekommt umgerechnet 27 Euro. Wenn jemand aus der Familie arbeiten geht, wird die Sozialhilfe um 15 Prozent gehoben – als Anreiz zur Arbeitsaufnahme. Der monatliche Bruttomindestlohn beträgt 150 Euro.In vielen südeuropäischen Staaten wie zum Beispiel Italien sind dagegen betriebliche und staatliche Sozialversicherungssysteme gemischt. Hilfsbedürftige bekommen einen niedrigen Grundbetrag, zudem gibt es eine Absicherung für soziale Notfälle. In Italien wird die Sozialhilfe von den Kommunen bezahlt, deshalb schwanken die Regelsätze von Region zu Region stark.Das zentralisierte Gegenmodell vertritt etwa Tessa David. Sie ist Sprecherin des Department for Work and Pensions in London, das die Sozialleistungen in England steuert. Das angelsächsische Modell ist stark auf bedarfsgeprüfte Fürsorgeleistungen ausgelegt. Jeder, der arbeitslos wird, bekommt zwar zunächst einen Grundbetrag, die so genannte jobseeker’s allowance. Dieser Betrag schwankt jedoch bereits stark je nach Alter und Familienstand. In einem Onlinesystem können Arbeitslose sich berechnen lassen, wie viel Geld sie erhalten. Das kann kompliziert werden, denn statt Zuschüsse für jedes Kind zu bekommen, machen Arbeitslose für jedes Kind eine Steuerermäßigung geltend, bekommen also Familienleistungen im Rahmen der „negativen Einkommensteuer“. Woran sich das Existenzminimum bemisst, wie es ermittelt wird? Eine Aufschlüsselung gebe es in Großbritannien nicht, sagt David.Insgesamt zeigt der Blick ins Ausland, dass mangels größerer Arbeitsmarktreformen in der jüngeren Vergangenheit dort auch die öffentlichen Zuwendungen an Arbeitslose gegenwärtig nicht weiter hinterfragt werden. Wer die zuständigen Sprecher in den Arbeitsministerien auf einen „Warenkorb als Berechnungsgrundlage“ für Sozialhilfesätze anspricht, erntet vor allem eines: Verwunderung.