Nach zehn Jahren deutscher Vereinigung sind neue Autoren aus dem Ostteil des Landes wie selbstverständlich in den Kanon der Gegenwartsliteratur hineingewachsen. Dass sie ihre Kindheit und Jugend in der DDR verbracht haben, mag in ihren Büchern häufig eine Rolle spielen, aber manchmal ist es auch unerheblich, und dann sind es die Kritiker, die nicht müde werden, darauf hinzuweisen. Bei denen freilich, die schon vor dem Mauerfall dem Kanon der DDR-Literatur angehörten, ist es anders. Wenn ihnen in westlichen Medien nicht schon damals eine politische Auffälligkeit zugestanden wurde, bezahlen sie ihre Herkunft häufig mit einer Verbannung unter die Wahrnehmungsschwelle.
Es ist ein Autor bekannt zu machen, den es sozusagen immer schon gab, der aber, vielleicht auch auf Grund seiner politischen Unauffälligkeit, unserem westlichen Blick entglitten ist. Joochen Laabs war kein Dissident, aber er war auch kein Paladin des DDR-Regimes. Sein Roman Der Schattenfänger, 1987 beendet, dann zwei Jahre im bürokratischen Genehmigungsverfahren unauffindbar und schließlich, 1990, doch noch vom Mitteldeutschen Verlag gedruckt, lässt ahnen, dass der Autor drauf und dran war, an den Verhältnissen seines Landes zu zerbrechen. Joochen Laabs besitzt von der Erstausgabe noch hundert Stück. Er hat sie in den Müllhalden um Leipzig gefunden. Der Steidl Verlag gibt nun diesem Roman eine zweite Chance.
Das Sujet ist nachgerade klassisch. Ein Mensch, der die Zumutungen seiner Gesellschaft nicht länger erträgt, setzt seinen Brotberuf aufs Spiel, trennt sich von seiner Familie und zieht sich in ein einsames Haus zurück, um mit ungestörter Hingabe das zu tun, was er immer schon tun wollte, nämlich schreiben. Was als Befreiung, als Akt der Selbstbehauptung gedacht war, wächst sich zu einer Depression aus. Die Spirale dreht sich weiter und weiter. Nicht nur wird der Schriftsteller von den Gespenstern der Vergangenheit verfolgt, auch die Gegenwart des autonomen Landlebens verliert schnell ihre idyllischen Züge und entwickelt sich in den Labyrinthen der Einsamkeit zu einer wahren Bedrohung. Zurück bleibt ein seelisches und körperliches Wrack, ein Alkoholiker, der zwischen der Realität und seinen Alpträumen nicht mehr unterscheiden kann. Gar nicht klassisch ist das Ende. Und auch nach vorne ist kein Weg. Beim Versuch, die Vergangenheit abzureißen, stürzt auch die Zukunft ein. Das Buch endet im sarkastischen Zitieren von Chamissos Versen an die »liebe deutsche Heimat«. Der Schattenfänger ist ein Roman, aber der Gattungsbezeichnung Roman sind zwei Worte hinzugefügt: Roman eines Irrtums. Sie wird damit zum Untertitel, der es offen lässt, wer hier im Irrtum ist, der Künstler oder die Gesellschaft. Dieses Buch ist keine vordergründige Anklage, kein selbstbewusstes Auftrumpfen, sondern es ist eine minutiöse Registratur des Scheiterns, die Abrechnung eines Menschen mit seinem eigenen Leben, das aus dem Lot geraten und ins Erbärmliche geschlittert ist.
Der Roman spielt auf und mit zwei zeitlichen Ebenen. Im Präsens wird der Verlauf eines Tages erzählt, an dem nichts passiert, außer dass der Ich-Erzähler in seiner heruntergekommenen Hütte außerhalb eines Dorfes mit Hoffen und Bangen auf den Besuch seiner Tochter wartet. Er hat sie ewig nicht gesehen, und ihre Ankunft vollzieht sich schließlich nicht in Wirklichkeit, sondern im Delirium.
Die Erwartung eines Ereignisses oder einer Begegnung und die damit verbundenen Vorkehrungen sind in der Romanliteratur eine klassische Ausgangssituation für Retardierungen, die sowohl über das Wahrnehmen und Überdenken des gegenwärtigen Zustands, als auch über Rückblenden erzeugt werden können. Joochen Laabs macht von beiden Möglichkeiten ausgiebig Gebrauch. Und das führt den Erzähler immer wieder auf die zweite zeitliche Ebene, auf die im Präteritum erzählte Vorgeschichte seines Desasters. Die beiden Ebenen sind nicht, wie das heutzutage mit einer vom Film inspirierten Schnitttechnik häufig geschieht, scharf gegeneinander kontrastiert, sondern sie gehen im Bewusstseinsstrom des Erzählers fast unmerklich ineinander über.
Romane haben manchmal das Problem, dass die Situation des Erzählers, der Grund seines Redeflusses über Hunderte von Seiten, unplausibel bleibt und vorübergehend immer nur durch den Inhalt der Erzählung überlagert wird. Der Leser fragt sich dann, warum erzählt mir der Autor das alles. Dieser Erzähler jedoch, der sich selbst einmal als Schattenfänger darstellt, ist durch und durch plausibel. Er ist keine besserwissende Instanz, sondern er ist ein Suchender, ein an sich und der Welt Zweifelnder, ein sensibler, belesener Mensch mit hohem Erklärungsbedarf für den armseligen Zustand seiner Exis tenz. Das Medium seiner Suche, der Austragungsort seines tastenden, abgründigen Zweifels ist dieser Roman, der damit einem Monolog gleicht, dessen Lesezeit mit der Dauer der Erzählzeit, jenen Stunden des Wartens auf die Tochter, in etwa zur Deckung kommt.
Um der Eintönigkeit des Monologischen zu entgehen, wird nicht nur Vergangenes häufig in Dialogform vergegenwärtigt, sondern es fällt sich der Erzähler auch selbst ständig ins Wort. Gewöhnlich unmerkliche Füll- und Bindewörter, wie »oder«, »obwohl«, »allerdings«, »wenngleich« und »freilich« werden im Fluss dieser Prosa von ihrer Wichtigkeit her zu Hauptwörtern. Wendungen wie: »bin ich versucht zu sagen«, »bin ich geneigt zu sagen«, »wenn ich das so sagen kann« oder »will mir plötzlich scheinen« kennzeichnen das vorsichtige Tasten, das Hin- und Herwenden der Wahrnehmungen und Einsichten. Das Ringen um Durchblick, um Verständnis für die eigene Lage vollzieht sich hier nicht, wie etwa bei Thomas Bernhard, über das distanzierende Hochschwingen einer alles erfassenden Anklage, sondern es gleicht eher einem Abschwung, weil der Anklage permanent das Moment des eigenen Scheiterns in die Quere kommt.
Einmal kommt der Erzähler zur Erkenntnis, »ich bin in den Zwang von Tätigkeiten geraten, von denen ich mich einst befreien wollte«. Prompt beginnt der nächste Absatz mit den Worten: »Allerdings, die eben aufgestellten Behauptungen stimmen nicht. Das ist mein ständiges Dilemma. Kaum will ich mich auf etwas berufen, erweist es sich als brüchig. Manchmal erkenne ich es gerade noch, oft nicht.«
Und obwohl hier ein Mensch vorgeblich mit sich selbst ringt, ringt er doch in Wahrheit mit den Widerlichkeiten und Unzulänglichkeiten seiner Gesellschaft und seines Staates, der DDR der achtziger Jahre. Manchmal, ich gestehe es offen, habe ich in der Originalausgabe nachgeschlagen, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass die Partei- und Gesellschaftskritik schon dort so schonungslos ausgesprochen war. Sie war es.
Es ergab sich, dass ich mit Joochen Laabs ein paar Wochen im selben Haus wohnte, im brandenburgischen Künstlerschloss Wiepersdorf. Er ist ein ruhiger, zurückhaltender Mensch, der sich niemandem aufdrängt. Das jedoch ist eine persönliche Qualität, die dem Medienmarkt, in den der Literaturbetrieb nun einmal eingebettet ist, nicht gerade entgegenkommt. Was mir an den Gesprächen mit ihm besonders auffiel, waren der Ernst und die Präzision, mit denen er an Literarisches herangeht. Und es konnte sein, dass er, wenn wir uns am nächsten Tag wieder trafen, immer noch mit einer Bemerkung vom Vortag beschäftigt war. Vielleicht hat sein Hang, Worte nicht nur im Zusammenhang des Satzsinnes, sondern in ihrer gesamten Aussagekraft zu erfassen und zu prüfen, auch mit seiner Vorgeschichte als Lyriker zu tun. Einmal, als wir über unsere unterschiedlichen Schreibweisen sprachen, sagte er zu mir, Der Schattenfänger sei mehr ein langes Gedicht als ein Roman. Er hatte recht, was den Darstellungsgestus, die Erzählhaltung betrifft. Aber er hatte nicht recht, wenn er damit auch den Sprachstil seines Romans meinte.
Prosaautoren haben, wenn sie stimmungsvoll werden, häufig eine Neigung zum Partizipium Präsens. Sie signalisieren damit: Jetzt wird es lyrisch feintönig. Bei mir als Leser hat das meist einen abschreckenden Effekt. Ich denke mir: Jetzt verlässt den Autor seine Vorstellungs- und Darstellungskraft. Ersatzweise beginnt er mit der Seele zu pinseln. Nicht so Joochen Laabs. Sein Ich-Erzähler mag, wie oft bei Rollenprosa, dem lyrischen Ich näher sein als etwa dem personalen oder gar auktorialen Erzählgestus, aber sein sprachlicher Ausdruck hat nichts Larmoyantes, sucht nicht selbstmitleidige Empfindsamkeit und Sentimentalität zu verbreiten, sondern hält sich an nüchterne, und dort, wo die Situation der in sich zusammensinkenden Hauptfigur danach ist, auch trunkene Beobachtung.
Beeindruckt haben mich auch die Naturbeschreibungen in diesem Roman. Neben dem einsamen Haus stehen Schwarzpappeln. Der Erzähler führt sie folgendermaßen ein: »Dem mittelsten der Bäume (es sind übrigens fünf) ist in halber Höhe der Hauptstamm ausgebrochen. Lange bevor ich herkam. Dadurch ist die Kraft in die übrigen Äste gedrungen, die wie Jungbäume aus dem Stammtorso treiben, und einer, der sich fast waagrecht abspreizt, greift in die Krone des nächsten Baumes. Dort kommen sich die schweren Äste ins Gehege, pressen und reiben sich aneinander. Das ergibt einen unartikulierten, aber deutlichen, eindringlichen Ton. Er wiederholt sich. Und wechselt. Je nachdem, wie sich die Bäume bewegen. Manchmal sind es dumpfe, rauhe Töne. Wie Ruflaute von Männern.«
Ohne in die Mottenkiste eines abgelaufenen lyrischen Formenschatzes zu greifen, vermag Joochen Laabs Naturbilder zu entwerfen, die sich auf einer zweiten Ebene, unterhalb der nüchternen Beschreibung, mit Spannung aufladen, manchmal auch mit Schwermut, Bedrohung und Angst. Die Natur ist hier nicht die große Mutter, die dem bedürftigen Menschenkind Zuflucht gewährt, sondern sie ist ein ständiger Widerpart, der den Niederlagen des Erzählers wie zum Hohn noch neue hinzufügt. »Nein, von einer paradiesischen Eintracht zwischen der Natur und mir«, heißt es an einer Stelle, »kann keine Rede sein.«
Der Erzähler ist ein Schriftsteller, dessen literarischer Beginn dem ideologischen Wankelmut von DDR-Schreibwerkstätten ausgesetzt war. Er gab sich Mühe, alles richtig zu machen, aber sein Schreiben sollte den Anforderungen letztlich nicht genügen: »Ich hatte andere einmal zum Maß für mich gemacht. Ich wusste, ich darf es um meiner selbst willen nicht noch einmal tun. Denn es war ja damals nicht nur meine Judith-Geschichte, der das Existenzrecht abgesprochen wurde; die Geschichte war ich, durch Worte gefiltert; ich war es gewesen, mit allem, was mich ausmachte, der abgewiesen wurde. Jedoch zu werden, was ich nicht bin - der verzweifelte Versuch misslang.«
Es gibt auch Einsprengsel von Klassiker-Zitaten in diesem Buch. Doch selbst die Autorität der Klassiker, an denen er sich einst aufgerichtet hatte, beginnt dem Erzähler unter der Hand zu zerbrechen. Ihre Worte geistern wie Flüchtlinge durch seinen Kopf, fern von der Aussicht auf ein neues Zuhause.
»Und der Roman hat keine DDR-Patina?«, war die erste Frage eines Literaturkenners, als ich ihm von diesem Roman erzählte. Nun, der Roman spielt in der DDR, deshalb wäre es ihm vorzuwerfen, wenn er keine hätte. In seinem Kern ist das Buch, nun sage ich es ohne zu zögern, ein Künstlerroman. Der kommt jedoch erst mit Verspätung in Gang, weil dem Autor verständlicherweise auch daran lag, die politischen Verhältnisse, an denen der Erzähler zerbricht, deutlich herauszustellen. Und das hat zur Folge, dass der Protagonist für den Leser auch nur mit Verzögerung die Kontur jener existenziellen Not entwickelt, in der er sich im Moment des Erzählens längst befindet, und deren schonungslose Beschreibung die bleibende literarische Leistung dieses Romans ausmacht. Dazu braucht es keine DDR. Was hier erzählt wird, gilt da wie dort.
Einmal sagt der Erzähler: »Heimat ist, es als Vorzug zu empfinden, dort zu leben, wo man lebt. Nur - das wenigste von dem, was man sagt, ist von immerwährender Gültigkeit.«
Joochen Laabs: Der Schattenfänger. Roman eines Irrtums. Steidl Verlag, Göttingen 2000. 400 S. 39, 80 DM
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