Fünf Uhr früh, es regnet aus Kübeln, für Jean Crasto im Mumbai-Quartier Borivli beginnt ein neuer Tag. Die 42-Jährige bereitet das Lunchpaket für Ehemann Alex und schickt die Kinder Ronnie und Rachel in die Schule. Bis 9.30 Uhr muss sie im Büro am Nariman Point 38, Kilometer weiter südlich im Zentrum sein. Genau dort, wo vor ein paar Wochen der Terror zugeschlagen hat. Sie eilt zur Wohnungstür, holt die Milchtüte, die der Kurier an den Türknauf gehängt hat und feuert den Plastiksack in den Abfallkübel.
Einen ganzen Häuserblock entfernt ist die 54-jährige Anu Pawar, die als Hausmädchen bei den Crastos arbeitet, schon seit vier Uhr auf den Beinen. Sie muss noch das Mittagessen für ihre Familie kochen, bevor sie um halb sieben ihr Slum-Viertel verlässt. Auf dem Weg zu den Crastos wirft sie einen Sack mit Gemüse- und Fischresten in den städtischen Müllcontainer am Ende der Straße.
Auch Veena Kumar, 16 Jahre alt, hat ihren Tag um vier Uhr begonnen. Sie leert für ein kleines Monatssalär die Mülleimer im Haushalt der Crastos und verdient etwas Geld hinzu, indem sie nebenbei Abfälle sammelt, womit sie schon auf dem Weg zu ihrem Arbeitsort beginnt. Sie durchsucht die Container in Anu Pawars Gegend und beim nahegelegenen Shopping Center, bis das Quantum stimmt und sie den Müll in einem der vielen Altwarengeschäfte im Viertel verkaufen kann. Bis Mittag habe sie in der Regel zwischen drei und fünf Rupien verdient, erzählt sie. Wenn es ein besonders glücklicher Tag sei, finde sie einen Kessel, noch tragbare Kleidung oder sogar Möbel, die jemand weggeworfen habe. Dann bringe sie doppelt so viel Geld wie sonst nach Hause und könne ihre Eltern und ihren Bruder ins Kino einladen.
Der Weg des Plastikmülls
Bis spätestens 10.30 Uhr steuern die rund 800 Müllwagen der Municipal Corporation of Greater Bombay (MCGB) die Abfallcontainer an, wobei die wieder verwertbaren Teile aus Metall, Leder, Plastik oder Papier aussortiert und an Altwarenhändler verkauft werden. Den kompostierbaren Rest karrt die MCGB, nachdem ihn die Hydraulikpressen der Wagen komprimiert haben, zu den drei pyramidenartigen Erddeponien von Groß-Mumbai. Um die Mittagszeit schließlich haben die Altwarenhändler das wieder verwertbare Material sortiert, verpackt und weitertransportiert - etwa 90 Prozent des Plastik- und Metallabfalls wandern umgehend nach Dharavi, einem der größten Slums in Südasien. In diesem Fall Schauplatz der dritten Stufe des Recycling-Prozesses, der hier schon in der kommenden Nacht oder erst in ein paar Tagen vollendet sein kann. In den Abfallmanufakturen von Dharavi werden Tonnen von Plastikmüll gewaschen, getrocknet und zu Flocken gemahlen, die wiederum gewaschen, getrocknet und dann zu Körnern oder Pellets geschmolzen werden - oft unter erbärmlichen Arbeitsbedingungen. Kleine Werkstätten - und damit schließt sich der Kreis - kaufen dieses Zwischenprodukt, um daraus Plastiktüten, Plastikrohre, Eimer oder Armreifen zu fabrizieren.
Das Altmetall durchläuft einen ähnlichen Prozess (sortieren, waschen, schmelzen), bis wieder brauchbare Metallteile entstehen. Innerhalb von drei bis sieben Tagen liegen die Milchtüte, die Jean Crasto achtlos in ihren Müllkübel steckte, oder das alte Metallrohr aus der Autowerkstatt nebenan als Spielzeug oder Kochtopf wieder in den Regalen der Supermärkte von Mumbai.
Der gute Ruf der Lumpensammler
2008 erzeugte die Millionen-Metropole durchschnittlich 7.025 Tonnen Müll am Tag, während in diesem Jahr die tägliche Abfallmenge vermutlich die 9.000-Tonnen-Grenze überschreiten wird. Es gibt Schätzungen, wonach die reiche Normalfamilie 2009 in Mumbai fünf, die mittelständische drei und eine arme Familie ein Kilo Müll pro Tag produzieren wird.
Angesichts solcher Dimensionen ist erstaunlich, dass die Stadtverwaltung einige Zeit gebraucht hat, um das informelle Recycling als nützliches Gewerbe zu akzeptieren. Erst nach den Überflutungen von 2005 und 2007 begannen die von der regionalistisch-hinduistischen Partei Shiv Sena und der hindu-nationalistischen Indischen Volkspartei (BJP) kontrollierten Behörden auf Umweltgruppen und Bürgerinitiativen zu hören, die immer wieder vergeblich vor den Gefahren des Hochwassers in dieser Mega-City gewarnt hatten. Als dann die Fluten der jüngsten Heimsuchungen nicht nur tote Ratten und andere Tierkadaver in Häuser und Hütten spülten, sondern auch alte Knochen, Speiseabfälle und Pharmamüll, als sich Epidemien ausbreiteten, die viele Todesopfer forderten, wurde reagiert und eine strikte Mülltrennung beschlossen. Seither darf Unrat nicht mehr einfach weggeworfen, seither müssen Arzneimittel und Elektroabfall von wieder verwertbaren Stoffen sowie kompostierbarem Material getrennt werden .
Mittlerweile schätzen die Stadtväter Mumbais den Lumpensammler auf der Straße genauso wie den Altwarenladen oder die Hinterhofmanufaktur und fördern so genannte Müllkomitees, die sich der Aufgabe verschrieben haben, die Wiederverwertung zu überwachen. Die kommunale Administration hat dabei ein neues Marketing- und Image-Potenzial entdeckt: Mumbai ist nicht mehr nur die Finanzhauptstadt Indiens, die Stadt der Träume und das Mekka des Glitzerschmucks - Mumbai firmiert nun auch als "das Recycling-Paradies" des Subkontinents.
Auch Flugzeuge werden recycelt
Arg paradiesisch sieht es im Zentrum des Mumbai-Recycling-Kraftwerks, in Dharavi (s. Glossar), freilich nicht aus. In diesem Slum der Slums sind schätzungsweise 200.000 Menschen in etwa 15.000 fensterlosen Werkstätten und Manufakturen damit beschäftigt, aus Müll eine verkaufbare Ware zu machen. "Wer genau hinsieht, entdeckt in Dharavi eine überaus faszinierende Version des asiatischen Entwicklungsmodells", jubelte vor einem Jahr ein Reporter der britischen Sonntagszeitung Observer. Dharavi sei zwar eines der größten Elendsreviere der Welt, schrieb seinerzeit Dan McDowell, aber das Geschäft der vielen Mini-Unternehmen blühe unübersehbar.
Usuf Ali Khan sieht das genauso. "In Dharavi recyceln wir alles, von der Haarnadel bis zum Flugzeug", sagt der 54-Jährige, der vor Jahrzehnten einen kleinen Betrieb an der Magistrale von Dhavadi gründete, in dem mittlerweile 36 Beschäftigte jeden Tag eine Tonne Polyethylen zu Plastikgranulat verarbeiten. In zwei weiteren Ateliers an der Sheth-Wadi-Gasse arbeiten noch einmal 64 Leute für den Müll-Unternehmer. Die Gegend dort ist trostlos, verwahrlost und schmutzig, der Gestank ekelerregend. In der Nachbarschaft wird Leder hergestellt: Frische Ziegenhäute stapeln sich bis unters Wellblechdach, Blut und Wasser sickern in offene Kanäle.
Das größte Unternehmen dieser Art im Viertel gehört Latif Usman, der mit seinen drei Gehilfen täglich 1.400 Ziegenhäute bearbeitet. "Die Schlachtbetriebe liefern uns bis neun Uhr morgens die Häute, wir pökeln und härten sie und bringen sie danach zum Trocknen, Gerben und Färben ans andere Ende von Dharavi." Zehn Stunden harte, dreckige Arbeit, die sich zumindest für den Eigentümer lohnt. Er könne sich jetzt ein kleines Appartement in einem der besseren Distrikte von Mumbai leisten, erzählt Usman hingebungsvoll.
In den Straßen von Dharavi floriert das Recycling-Gewerbe, fast endlos wirkt der Zug Tausender kleiner Spediteure, die von morgens bis abends mit gepressten Metallplatten, Kartonagen, Glasflaschen, Ölkanistern, Eisenrohren, Autobatterien oder ausrangierten Computern auf Fahrrädern, in Schubkarren, auf Handwagen oder auf dem Kopf unterwegs sind. Im Vorjahr lag das Durchschnittseinkommen in Indien bei 80 Rupien am Tag (umgerechnet etwa zwei Euro); in Dharavi verdient man das Drei- bis Vierfache, doch hat das vergleichsweise gute Einkommen seinen Preis.
Nach offiziellen Angaben verarbeitete Indien 2007 etwa 330.000 Tonnen Elektronikschrott; tatsächlich dürfte die Menge jedoch weit höher sein. Allein in den Vereinigten Staaten werden jedes Jahr etwa 40 Millionen Computer ausrangiert. Vier Fünftel der im Westen weggeworfenen Festplatten, Monitore und Prozessoren, so schätzt Ravi Aggarwal von der indischen Nichtregierungsorganisation Toxic Links, landen - nicht selten als Entwicklungshilfe etikettiert - auf den Hinterhöfen der willigen Recycling-Dienstleister in Pakistan, Bangladesh, China oder Indien. Und damit auch in Dharavi.
Ein gefährliches Gewerbe
Einige Firmen machen mit der "Nachnutzung" der im Westen billig entsorgten Hardware viel Geld. "Aber die Beschäftigten kennen die Gefahren nicht, wenn sie Bildschirme zertrümmern oder Leiterplatinen schmelzen", sagt Afzal Khatri von der Aktionsgruppe Clean Sweep. "Sie hantieren täglich mit gefährlichen Schwermetallen wie Blei, Cadmium oder Quecksilber." Wie viele Arbeiter werden davon krank, wie viele siechen dahin, wie viele sterben? Keiner kennt die Zahl der Opfer dieses Gewerbes. Wer sich darum bemüht, wird feststellen - es gibt ohnehin keine Daten: In Dharavi sind gerade einmal zehn Prozent der Kleinbetriebe offiziell registriert, und selbst die kontrolliert niemand.
Jean Crasto, die Büroangestellte in Borivli, ahnt von all dem nichts. Wenn sie etwas Zeit und Geld hat, dann geht sie shoppen und entdeckt beim Schmuckhändler an der Straßenecke vielleicht ein Plastikarmband, das einmal ihre Milchtüte war.
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