Ist die große, rechte Pegida-Bewegung bloß eine Erfindung der Polizei? In Leipzig ist ein Streit entbrannt über die Frage, wie viele Menschen am vergangenen Mittwoch als „Legida“ auf die Straße gegangen sind. Die Polizei spricht von 15.000, Soziologen und Fotografen hingegen kommen mit ihren Berechnungen auf gerade mal ein Drittel dessen. Lügen die staatlichen Sicherheitskräfte – zum Beispiel, um das enorme Polizeiaufgebot zu rechtfertigen?
Die Zahlendifferenzen sind zwar gewaltig, trotzdem gibt es keine Hinweise, dass getrickst wurde. Doch diese Nachricht ist kein Grund zu Beruhigung, im Gegenteil. Sie ist vielleicht noch viel erschreckender: Die Angaben der Polizei sind unzuverlässig und kaum zu gebrauchen – und zwar nicht nur bei Legida, sondern bei sämtlichen Demonstrationen. Das lässt sich erklären: Kein Polizist hat je ordentlich gelernt, die Größe einer Demonstration zu schätzen.
Dabei sind die Zahlen politisch höchst brisant, das erkennt man dieser Tage sehr deutlich. Jede Woche mutmaßen Journalisten, Politiker, Bürger: Bekommt Pegida weiteren Zulauf? Ohne die hohen Teilnehmerzahlen wäre die Bewegung längst in der Bedeutungslosigkeit versunken. Darum hat die Öffentlichkeit ein Interesse an korrekten Angaben – und da läuft offenbar einiges falsch.
Ein Polizeisprecher in Rage
Die Legida-Organisatoren haben für die Demo am vergangenen Mittwoch 60.000 Menschen angemeldet, das erschien schon übertrieben. Tatsächlich kamen deutlich weniger, aber wie viele genau? Der Legida-Sprecher Jörg Hoyer sagt: mindestens 20.000. Die Polizei sagt: ungefähr 15.000. Fotografen und Uni-Soziologen sagen: höchstens 5.000. Und sie haben sehr genau nachgezählt.
Die Polizei will von der dem Manipulations-Vorwurf nichts wissen. Uwe Voigt, Sprecher der Leipziger Polizei, redet sich in Rage. „Die Kritik prallt an mir ab wie Wasser an der Ente.“ Ihn nervt, dass niemand die Schätzungen der Soziologen anzweifle. „Da denken Leute, sie wissen es besser, obwohl sie gar nicht dabei waren. Dann veröffentlichen sie irgendwelche Zahlen und keiner fragt, wie die eigentlich zustande kommen.“
Wirklich? Auf ihrer Internetseite haben die Soziologen genau beschrieben, welche Methoden sie angewandt haben. Und vor Ort waren sie aller Wahrscheinlichkeit nach auch. Schlampig ist wohl eher die Polizei vorgegangen, die sich am späten Mittwochabend mit dem Ordnungsamt auf eine gemeinsame Zahl verständigt hat.
Der Polizeipräsident Bernd Mebitz erzählte der Leipziger Volkszeitung zwar großspurig: „Man verschätzt sich da sehr leicht, deshalb zählen wir doppelt.“ Wenn jedoch Polizeisprecher Voigt die Details nennt, lässt sich schon erahnen, wo sich womöglich Fehler eingeschlichen haben.
„Wahrlich besseres zu tun“
Drei Beamte sollten die Menschenreihen zählen. Dann wurde die Breite der Straße geschätzt, auf die Anzahl der Menschen pro Reihe geschlossen und hochgerechnet. Ein Hubschrauber hat zusätzlich Bilder aus der Luft geliefert. Doch niemand war alleine für das Zählen zuständig, alle mussten noch andere Aufgaben erledigen. „Bei so einem Einsatz hat man wahrlich besseres zu tun, als sich auf das Zählen von Menschen zu konzentrieren“, sagt Voigt dem Freitag. Vielleicht wurde also doch nur über den Daumen gepeilt – zumal die Vorgesetzten das schwer überprüfen können.
Zudem lernen die Beamten während ihrer Ausbildung nicht, wie sie die Größe einer Demonstration vernünftig abschätzen können – stattdessen müssen sie es sich später selbst beibringen. Das berichtet Michael Gassen von der Berliner Polizei. „Die Polizisten, die zählen, sind erfahrene Kollegen, die viele Einsätze mitgemacht haben. Die stehen an übersichtlichen Orten und zählen dort die Menschen, nicht einzeln natürlich, sondern meistens in Gruppen.“ Nur bei Demonstrationen mit mehreren zehntausend Teilnehmern kämen auch Luftaufnahmen hinzu, die allerdings vor allem gemacht werden, um den Verkehr besser steuern zu können.
Politisch gefärbt – aber unbewusst
In Leipzig sind die Soziologen von der Universität sehr sorgfältig vorgegangen und haben verschiedene Methoden genutzt. Sie haben mit sogenannten Klickern die Reihen und die ungefähre Zahl der Menschen pro Reihe gezählt. Sie haben Luftaufnahmen in Quadrate unterteilt und nachgezählt. Und sie haben ein Video aufgenommen, angesehen und jeden Demonstranten gezählt. Die Ergebnisse bleiben stets unter der 5.000-Marke. Das deckt sich mit Zählungen von Fotografen, die sich hochaufgelöste Bilder genauer angeschaut und ausgewertet haben.
Sind die Zahlen der Polizei also falsch oder gar gefälscht? Kann man sich um das Dreifache vertun? Der Protest- und Polizeiforscher Peter Ullrich sagt: „Es könnte sein, dass die sächsische Polizei die Teilnehmerzahl hoch ansetzt, um ihren immensen Einsatz zu legitimieren. Aber das ist bloß eine vage Vermutung.“ Gegen den Manipulations-Vorwurf spricht, dass mehrere Polizisten die richtige Zahl kennen müssten und sich bisher noch kein Whistleblower an die Medien gewandt hat – obwohl das auch an dem Korpsgeist innerhalb der Polizei liegen könnte. Außerdem müsste die Polizei nach dieser Argumentation bei vielen anderen, auch linksradikalen Demos die Teilnehmerzahlen ebenfalls nach oben drücken.
Wahrscheinlicher ist, dass die Schätzungen der Polizei oft ziemlich schlecht sind – und regelmäßig politisch gefärbt, das muss den Beamten jedoch gar nicht bewusst sein. Wer mit dem Anliegen einer Demonstration sympathisiert, dürfte bei der Schätzung etwas großzügiger sein. Bei den anderen Demos hingegen werden häufig strengere Maßstäbe angelegt. Im Einzelfall ist es natürlich gelegentlich auch anders: Die Legida-Zahlen müssen nicht unbedingt aus Sympathie hoch angesetzt worden sein, sondern sind vielleicht wirklich nur eine schlechte Schätzung.
Intransparente Zählmethoden
Sollte die Polizei ganz auf Schätzungen verzichten? Ihre Aufgabe ist schließlich der Schutz der Demonstration und nicht die Aufklärung der Öffentlichkeit über eine politische Bewegung. Der Polizei dürfte das sogar ganz recht sein, schließlich muss sie sich dann keine Kritik an ihren Zahlen mehr anhören. Trotzdem ist das für die Leipziger Polizei keine Option: „Wir müssen Stellung beziehen, wenn die Journalisten fragen“, sagt Sprecher Voigt. Womöglich hat die Presse sogar ein Recht auf eine solche Auskunft – zumindest, wenn die Polizei ohnehin schon gezählt hat, etwa um zu entscheiden, ob noch mehr Einsatzkräfte gebraucht werden.
Besser wäre es, wenn die Schätzungen genauer werden. „Es muss Schluss sein mit den politischen Zahlenspielen“, sagt Protestforscher Ullrich dem Freitag. „Es gibt verlässliche Zählmethoden, die kann man anwenden.“ Er verweist auf eine Übersicht seines Kollegen Dieter Rucht. Am besten geeignet ist demnach eine Videoaufnahme vom Protestzug, die hinterher im Zeitraffer abgespielt und ausgewertet wird. „Leider macht die Polizei das Verfahren oft nicht transparent“, kritisiert Ullrich. „Es wäre sinnvoll, eine Richtlinie zu haben, und Zählungen oder Schätzungen gemeinsam mit dem Veranstalter oder von neutralen Dritten nach überprüfbaren Kriterien vorzunehmen.“
Ein gesundes Misstrauen
Bis dahin wird die Polizei wohl die Deutungshoheit über die Zahlen behalten. Das hat mehrere Gründe. Erstens machen sich meistens weder die Demoveranstalter noch Journalisten die Mühe, die Teilnehmer durchzuzählen – die Anti-Atom-Demo im September 2010 war eine der wenigen Ausnahmen, die taz kam auf mindestens 50.000 Protestierer. Zweitens hat in der Regel nur die Polizei die technischen Möglichkeiten, um gute Luftaufnahmen zu machen, etwa mit einem Hubschrauber. Und drittens vertrauen die Journalisten lieber der Polizei als den Organisatoren. Die Zahlen können als „offiziell“ bezeichnet werden, die Polizei gilt als unabhängig und oft haben die Journalisten auch einen engeren Draht zum Pressesprecher, wenn sie mit dem regelmäßig zu tun haben.
Und wenn wieder so etwas passiert wie in Leipzig? Dann bleibt nur eines: ein gesundes Misstrauen gegenüber den Teilnehmerzahlen der Polizei.
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