Links gegen rechts, dieser altbekannte Gegensatz scheint in Frankreich gerade obsolet zu werden. Ausgerechnet hier, wo dieses Konzept geprägt wurde. Die Rechte hat sich unter dem Rassemblement National (ehemals: Front National) nationalistisch radikalisiert. Die Parti Socialiste wurde von einer Art „Pasokifizierung“ ausgehöhlt und hinterlässt eine radikalere Linke. Beide Seiten stehen nun zwangsläufig demselben Feind gegenüber: der technokratischen Mitte um Macron. Dieses politische Dreieck könnte erklären, warum der Aufstand der Gelbwesten so chaotisch wirkt, warum er so schwer zu fassen ist. Viele Beteiligte bezeichnen sich selbst als apolitisch. Sie leben im Zentrum des Dreiecks, sind vom sozialen Abstieg bedroht und misstrauen den Versprechen aller Parteien.
Auch die Themen der Bewegung – Steuern und Kaufkraft – haben für Verwirrung gesorgt. Doch dazu gibt es eigentlich keinen Anlass: Die Bewegung der Gelbwesten ist ein Aufstand wie aus dem Lehrbuch. Es ist kein Arbeiterprotest. Jener kreist, selbstredend, um arbeitsbezogene Forderungen. Arbeiterinnen kämpfen – in ihrer Rolle als Arbeiterinnen – um den Preis und die Bedingungen ihrer Arbeit. Ein Arbeitskampf spielt sich im Bereich der Produktion von Gütern und Dienstleistungen, im Bereich der Wertschöpfung ab.
Dagegen ist der klassische Aufruhr, wie er im Europa des Mittelalters und der Frühen Neuzeit entstanden ist, ein kollektives Handeln, das 1. darum kämpft, die Preise von Marktgütern zu beeinflussen; 2. Menschen zusammenbringt, die nichts verbindet als ihre Enteignung; und 3. sich in der Sphäre der Konsumption entfaltet und auf die Störung der Warenzirkulation setzt.
Vom 14. bis 18. Jahrhundert ging es dabei oft darum, das Gemeinwesen gegen einen Bäcker oder Getreidehändler zu mobilisieren. Der „Brotaufruhr“ in Frankreich gipfelte im „Mehlkrieg“ von 1775, der schon an die nationale Krise erinnert, die der Monarchie ein Ende setzen sollte: Ein Aufstand der Marktfrauen gegen die Lebensmittelpreise führte 1789 zum heugabelschwingenden Frauenmarsch auf Versailles. Bis zu den Arbeitskämpfen im 19. Jahrhundert waren Aufstände gegen die Preisgestaltung die häufigste Form kollektiven Handelns.
Die Bewegung der Gelbwesten entspricht diesem Muster: Sie gründet auf der Forderung, dass ein bestimmtes Reproduktionsmittel zu einem günstigeren Preis angeboten werden muss, damit die proletarische Reproduktion weitergehen kann. Die Bewegung ist ein Zeichen dafür, dass der traditionelle Vertrag zwischen den Klassen in der Krise steckt. Der Brotaufstand ist zurück.
„Kreisverkehr-Proteste“ werden die Aktionen auch genannt. Die Protestierenden versammeln sich dort, um den Verkehr zu blockieren – bis zur Belagerung des Arc de Triomphe, diesem Kreisverkehr im Zentrum der Dinge. Auf den Bildern des Aufstands ist zu sehen, wie sich teils nur zwei Gelbwesten einem riesigen Lastwagen in den Weg stellen. Der Koordinationsaufwand ist minimal, die Ergebnisse sind verblüffend effektiv. Die Versailler Heugabeln finden sich in Narbonne wieder, wo sich ein Mann eines Gabelstaplers bemächtigte und damit ein brennendes Auto in eine Mautstelle rammte. Der Verkehr stellt den Feind dar: etwas, worüber man die Kontrolle erlangen muss, bevor es die Kontrolle über einen selbst gewinnt. Es erinnert an die Maschinenstürmer vor 200 Jahren.
Das soll kein Klassenkampf sein?
Aber der Fokus auf die Verkehrsmittel verschleiert, dass es sich bei einem Aufstand um einen „Zirkulationskampf“ in einem tieferen Sinn handelt. Im überentwickelten Westen ist das Wachstum des produzierenden Gewerbes an seine Grenzen gelangt; hier markiert der Aufstieg der Zirkulationskämpfe die Schwäche der traditionellen Arbeiterbewegung sowie die Restrukturierung der Klassenverhältnisse und des Kapitals. Formal gesprochen beschreibt „Zirkulation“ eine Reihe miteinander verbundener Phänomene: erstens den Markt, wo der Transfer von Eigentum, von Waren und Dienstleistungen stattfindet. Zweitens die reale Bewegung zuvor produzierter Waren durch den Markt hin zur Konsumption. Und drittens die verschiedenen Formen von Arbeit, die zur Zirkulation dieser Waren und damit zur Realisierung ihres Wertes nötig sind.
Der Zirkulationskampf beschreibt somit die soziale Auseinandersetzung derer, die aus der Sphäre der Produktion gedrängt wurden. Und das zu einem Zeitpunkt, an dem die Produktion selbst zurückgeht und das Kapital sich auf der Suche nach Profit vermehrt Strategien zuwendet, die in der von Marx beschriebenen „geräuschvollen Sphäre der Zirkulation“ verortet sind. Bei den Gelbwesten treffen sich Lagerarbeiter, arbeitslose Elektroinstallateure, Nachtschwestern, ehemalige Teppichleger – die nun freiberuflich auf Haustiere aufpassen – und Fahrer von Betonmischern. Sie verkörpern ein bestimmtes Spektrum: die Überreste des Bauwesens, den stagnierenden Dienstleistungsbereich, die Prekären und Aussortierten.
Weil sie nicht in einer Arbeiterbewegung organisiert sind, ist es für manch orthodoxen Denker fraglich, ob es sich hier überhaupt um einen Klassenkampf handelt. Doch keine Kritik könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Was wir beobachten, ist das Schicksal der Klassenorganisation heute. Nicht, dass diese Leute nicht arbeiten würden – einige tun es, andere nicht. Man kann sich schwerlich den Arbeitskampf vorstellen, der diese grundverschiedenen Typen vereint. Doch die steigenden Lebenshaltungskosten machen sie alle zu Bettlern. Die Preisgestaltung sorgt dafür.
Die Suche nach dem wahren Subjekt eines Aufruhrs verkennt grundsätzlich die Vielfalt der Masse. Zwar formen Nationalist*innen die Bewegung maßgeblich mit und nutzen sie, um gegen die migrantische Bevölkerung der Banlieues Stimmung zu machen. Doch waren sowohl Städterinnen als auch Banlieusards immer schon unter den Gelbwesten zu finden. Ein Aufruhr ist von Anfang geprägt durch einen Kampf um seine Richtung. Während wir mit Straßenprotesten vertraut sind, die nach rechts abdriften – wie das desaströse Beispiel in Brasilien etwa –, haben es die Gilets Jaunes vermocht, diesen Kurs in bestimmten Momenten umzukehren. Dies gelang auch, weil die allwöchentliche Mobilisierung am Samstag eine gewisse Urbanisierung der Bewegung mit sich brachte und sie einer breiteren proletarischen Basis zugänglich machte, zu der Akteure wie das Adama Komitee zählen. Das Komitee „Aufklärung und Gerechtigkeit für Adama Traoré“ gründete sich 2016 nach Traorés Tod in Polizeigewahrsam, der ähnliche, wenn auch nicht ganz so heftige Riots hervorrief wie die, die 2005 von Clichy-sous-Bois auf andere Viertel von Paris und schließlich auf andere französische Vorstädte übergriffen.
Der durch staatliche Gewalt gegen marginalisierte – in Europa meist migrantische – Communitys ausgelöste „Race Riot“ (so die anglofone Fehlbezeichnung) oder der „Vorstadt-Aufruhr“ bildet das Gegenstück zum Aufstand der Gelbwesten. Das sind die beiden Seiten des Zirkulationskampfes: auf der einen Seite jene, die vom Lohn ausgeschlossen sind. Auf der anderen die, deren Löhne nicht mehr zum Überleben reichen. Die Kämpfe beider Gruppen sind aneinander gekoppelte Phänomene einer stagnierenden, rückläufigen Produktion, einer politökonomischen Situation, die nicht länger vom Lohn und der Disziplinierung durch den Lohn stabilisiert wird.
Beide Arten des Aufruhrs verweisen, unabhängig von ihrem Auslöser, zwangsläufig auf die Themen Migration, Staatsgrenzen, ökonomischer Nationalismus. In Zeiten, in denen die sinkende Produktion und die damit verbundene Neuzusammensetzung der Klasse auf Fremdenfeindlichkeit trifft, sind es die Zirkulationskämpfe, die den nationalistischen Chauvinismus auf die Agenda setzen. Doch es gibt keine ernst zu nehmende linke Politik, die nicht von Grund auf antirassistisch wäre.
Macron im Winterpalais
Ebenso offensichtlich ist, dass soziale Bewegungen heute verstärkt die ökologische Katastrophe in den Blick nehmen müssen. Eine der Neuerungen im Zusammenhang mit den Gelbwesten ist, dass der Staat ökologische Fragen als Vorwand benutzt, um die gesellschaftlichen Kosten der Reproduktion auf seine Subjekte abzuwälzen. Das scheint eine düstere, aber treffende Prognose zu sein: Während ärmere Länder die ihnen zur Verfügung stehenden Brennstoffe verbrennen müssen, um in den internationalen Wettbewerb einzutreten, kann man sich gut vorstellen, dass der Staat in den überentwickelten Ländern die Öko-Logik in Zukunft als Instrument zur Durchsetzung von Austeritätsmaßnahmen gebraucht. Hier zeigt sich die wahre Schlagkraft der Gelbwesten. Eine Maßnahme, die der Staat im Namen der (ökologischen) Sicherheit beschlossen hat, schleudern sie als Warnung zurück, dass der Staat selbst nicht mehr sicher ist. Dabei handelt es sich um nichts weniger als eine ökologische Fabel darüber, wer für den Erhalt von Sicherheit und Überleben zahlen muss: der Staat oder die Menschen?
Es könnte deshalb hilfreich sein, die Ereignisse rund um die Gelbwesten als einen frühen Klima-Aufruhr zu betrachten, so wie auch die Migration vielfach durch den Klimakollaps angetrieben wird. Diese beiden Problemfelder – die globale Zirkulation von Menschen und die ökologische Krise – werden nicht nur dem Staat als Anlässe dienen, seine Machtmittel auszubauen. Sie werden im Laufe des nächsten Jahrzehnts durch Diskurse um Ressourcenschonung und angeblich humanitäre Maßnahmen gegen Klimaflüchtlinge einen „grünen Nationalismus“ hervorbringen.
Es fällt schwer, auf steigende Meerespiegel und hungrige Menschen zu schauen, und dabei anzunehmen, dass die Rettung aus dem Präsidentenpalast kommen wird. Die Schwäche von Randale, die durch staatliche Gewalt ausgelöst wird, besteht oft darin, dass sie genau an dieser Stelle steckenbleibt. Allzu oft wird ihr durch kosmetische Modifikationen des Staatsapparates beigekommen: Ein Amtsträger tritt zurück, eine Expertengruppe tritt zusammen. Dagegen besteht die Stärke des Preis-Aufstands darin, dass er direkt bei der Wirtschaft ansetzt. Das kann jedoch zugleich auch seine Schwäche sein: wenn sich die Gelbwesten nur allzu leicht revanchistischen Sehnsüchten nach dem Klassenkompromiss der „goldenen Nachkriegsjahrzehnte“ öffnen und dessen beschränkter Vision davon, für wen dieser Deal gilt. Dieses Denken samt seinen Ausschlüssen ist gemeint, wenn die Menge die „Marseillaise“ anstimmt – und nicht 1792.
Doch die aktuellen Proteste zeigen gerade, dass diese Zeit nicht zurückkommt, nicht für Linke und nicht für Nationalisten. „Die Wirtschaft“ in ihrer heutigen Ausformung muss in Wahrheit durch den Staat vertreten werden. Man kann plündernd über die Champs-Élysées ziehen – quasi Einkauf zum Nulltarif –, doch ist allen bewusst, dass Macrons Regierungspalast der Winterpalais des Geldes ist. Trotzdem wollen die Leute nicht mit ihm sprechen. Am 5. Januar schlugen die Demonstranten mit einem Gabelstapler ihren Weg in ein Ministerium in Paris. Dieses Fahrzeug, das im Allgemeinen nur für den Transport von Handelswaren verwendet wird, ist zu einem Totem geworden. Wo früher Heugabeln waren, sind heute Gabelstapler.
Der Sprung ins Politische hat bereits einen nachhaltigeren Kampf ermöglicht, als man es sich vorgestellt hat. Die Gelbwesten haben begonnen, die Einheit von Politik und Wirtschaft wiederzuentdecken, jene grundlegende Wahrheit der sozialen Existenz, die der bürgerliche Fetisch zu verbergen trachtet.
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