„Fällt auseinander“

Interview Die Grundschule vereint alle Schichten. Dachte man. Soziologe Marcel Helbig weiß es besser
Ausgabe 04/2019

Erst nach der Grundschule wird es ungerecht, so lautete bisher die Einschätzung, wenn es um die Bildungschancen für Kinder aus finanzschwachen Familien ging. Doch auch die Grundschule ist in Zeiten steigender Mieten längst kein Ort für alle mehr: Wohlhabende melden sich gern mal um oder schicken den Nachwuchs zur Privatschule. Marcel Helbig hat dazu geforscht.

der Freitag: Herr Helbig, Sie haben jüngst die räumliche Trennung sozialer Schichten in deutschen Städten untersucht. Wie hat sich dieses Phänomen seit den 90ern entwickelt?

Marcel Helbig: Wir haben vor allem den Zeitraum seit den Hartz-Reformen 2005 untersucht. Aber man sieht schon ab den frühen 90ern, dass die Sozialsegregation, also das Ausmaß, in dem sich arme Menschen ungleich in Städten verteilen, massiv zugenommen hat, vor allem im Osten. Das betrifft besonders Familien mit Kindern unter sechs Jahren. Diese Gruppe ist den Marktkräften bei der Wohnungssuche besonders stark unterworfen.

Wie wirkt sich diese geografische Trennung von Arm und Reich auf Schulen aus?

Wenn es viele arme Kinder in bestimmten Gebieten gibt, gehen die natürlich auch auf die Grundschulen in diesen Gebieten. Wir haben ja eigentlich die Vorstellung, dass die Grundschule eine Schule für alle ist. Doch davon kann man sich in vielen Städten inzwischen verabschieden. In einer Studie von 2017 haben wir uns etwa Berlin angeschaut. Dort haben die Grundschulen eine genauso hohe soziale Segregation wie die weiterführenden Schulen. Das gibt einen Hinweis darauf, welche Bedeutung die Wohnraumsegregation mittlerweile für die soziale Zusammensetzung unserer Grundschulen hat.

Zur Person

Marcel Helbig, Jahrgang 1980, ist Sozialwissenschaftler am Wissenschaftszentrum Berlin und Inhaber des Lehrstuhls für Bildung und soziale Ungleichheit an der Universität Erfurt. In seiner 2018 erschienen Studie zur sozialen Segregation geht es auch um Lernerfolg und Nachbarschaft

Achten Eltern aus der akademischen Mittelschicht ganz bewusst darauf, auf welche Schulen sie ihre Kinder schicken?

Mit Sicherheit. Man hört immer wieder, dass Leute sich auf die Adresse von Verwandten oder Bekannten ummelden, um ihr Kind in einem anderen Einzugsgebiet zur Schule zu schicken. Sogenannte Gastschulanträge werden ebenfalls eher von höheren Schichten genutzt. Und dann gibt es natürlich das Ventil der Privatschulen. Gerade erst hat wieder eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung bestätigt, dass die Schere in den Privatschulen massiv aufgegangen ist, auch besonders in Ostdeutschland: Auf Privatschulen sind überwiegend die höheren Schichten zu finden, die öffentlichen Schulen müssen sich hingegen um „den Rest“ kümmern.

Verstärken Privatschulen diese Segregation noch?

Zumindest in den westdeutschen Städten stellt man fest, dass die räumliche Segregation weniger stark angestiegen ist, je mehr private Grundschulen es gibt. Das hat nichts damit zu tun, dass Privatschulen sozial inklusiv wären; es zeigt vielmehr auf, für wen Privatschulen eigentlich die Schulen der Wahl sind: nämlich für die höheren Schichten, die dadurch aus bestimmten Gebieten nicht wegziehen müssen. Ein Beispiel: Irgendwann ist man als Student mal nach Kreuzberg gezogen, weil es ein hippes Viertel ist. Wenn man dann aber irgendwann sein Kind an eine Schule in Kreuzberg geben will, merkt man, dass dort doch sehr viele Migrantenkinder sind – und schickt sein Kind lieber an die Waldorfschule. Und wenn man diese Option nicht hat, zieht man raus. So beugen Privatschulen der räumlichen Segregation vor, aber dadurch kommt man natürlich nicht mehr mit Kindern unterer Schichten in Kontakt.

Ist die soziale Segregation also auch eine ethnische?

Es ist immer die Frage, ob ethnische Segregation das Hauptproblem ist, oder eher die Ballung sozial Benachteiligter. Wir fokussieren sehr stark auf die Benachteiligung von Migranten, doch wir sehen nicht, dass die wirklichen dahinter liegenden Probleme soziale sind. Blicken wir auf die Bildungsergebnisse von Migranten, und darauf, aus welchen Schichten, Einkommens- und Bildungsverhältnissen sie kommen, so sehen wir am Ende keine Migrationsbenachteiligung mehr. Migranten sind vor allem benachteiligt, weil sie eher aus den unteren Schichten kommen.

Warum gibt es in Ostdeutschland so viele Privatschulen, sogar mehr als in Westdeutschland?

Das ist eine bedenkliche Entwicklung. Das Ausmaß privater Grundschulen ist inzwischen wirklich extrem, besonders in Mecklenburg-Vorpommern. In Schwerin sind 40 Prozent der Grundschulen in privater Hand, in Rostock 25 Prozent. Es ist das passiert, was wir im Grundgesetz eigentlich verhindern wollten. Mit Artikel 7, Absatz 5 sollte der Privatisierungsgrad der Grundschulen eigentlich beschränkt werden. In Mecklenburg-Vorpommern wurde dieser Grundsatz nie angewendet.

Sind diese Privatschulen alle kostenpflichtig?

In Rheinland-Pfalz dürfen keine Schulgelder genommen werden, das ist aber eine Ausnahme in Deutschland. Und trotzdem sehen wir auch dort eine hohe soziale Spaltung auf den Privatschulen – zumindest bei den privaten Grundschulen der größeren Städte. Es geht nicht nur um das Geld, es geht um Distinktion.

Es gibt in Deutschland allgemein einen Lehrer- und Ressourcenmangel an den Schulen. Wie sind denn die Schulen je nach ihrer sozialen Zusammensetzung davon betroffen?

Es gibt ein einziges Bundesland, das bei der bedarfsorientierten Mittelverteilung ein Vorbild ist: Hamburg. Dort wird über Fragebögen, die an alle Eltern gehen, erfragt, wie hoch das Einkommen und die Bildung ist. Dadurch wird ein Index gebildet, und je nachdem wie die soziale Zusammensetzung einer Schule ist, wird massiv mit Mitteln gegengesteuert. Einige Bundesländer sind auch ein stückweit in diese richtung gegangen. Aber die Mittel, die dort eingesetzt werden, sind weit geringer als in Hamburg. Wir haben in einer aktuellen Studie für Berlin untersucht, wie die soziale Zusammensetzung der Schulen mit Ausstattung und Qualitätsmerkmalen zusammenhängt. In sozial benachteiligten Schulen gibt es tatsächlich mehr Quereinsteiger, die nicht Lehramt studiert haben; die Personalausstattung ist insgesamt schlechter, es gibt mehr Fehlstunden.

Und was halten Sie vom Konzept der "Talentschulen" in Nordrhein-Westfalen?

Das ist komplett am Thema vorbei! Schon allein, dass man sich als Schule dafür bewerben muss, es gibt Schulen in "Brennpunkten", die froh sind, wenn sie ihren Schulalltag bewältigen. Die können bestimmt nicht noch einen schönen Antrag schreiben, in dem sie ihre Einzigartigkeit herausstellen, um irgendwelche Mittel zu gewinnnen. Ich würde viel mehr davon halten, wenn man Kinder im "Brennpunkt" ungefragt mit der Gießkanne fördert, das bringt viel mehr, als wenn man irgendwelche Leuchtturmprojekte baut.

Wie wirkt das mehrgliedrige Schulsystem mit der sozialen Segregation zusammen?

40 Jahre lang haben wir uns am Gymnasium abgearbeitet, als der Institution, die soziale Ungleichheiten schafft. Aber im Windschatten dieser Diskussion haben wir nicht mitbekommen, dass auch unsere Grundschulen immer stärker sozial auseinanderfallen. Wir wissen noch zu wenig, was das eigentlich bedeutet, in einer Schule zu sein, auf der 80 Prozent der Kinder arm sind.

Wie müsste man reagieren?

Das Problem ist tief verwurzelt in der Ungleichverteilung bestimmter sozialer Gruppen. Das ist in vielen Städten in den letzten Jahren komplett aus dem Ruder gelaufen. Die Schule kann nicht der große Reparaturbetrieb sein, der alle Probleme löst, die wir in die Gesellschaft produzieren. Wir bereiten nicht einmal unsere Lehrer angemessen darauf vor. In der Lehramtsausbildung gibt es an vielen Standorten keine Veranstaltungen zur sozialen Ungleichheit, die alle besuchen müssten. Die sind sich teils gar nicht bewusst, was auf sie zukommt. Und sie sollen dann die Kräfte sein, die die soziale Ungleichheit in den Griff bekommen?

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