Ausweitung der britischen Kampfzone

Vereinigtes Königreich Theresa May fügt dem Brexit-Chaos ein weiteres Projekt hinzu: Die Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention

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Könnte Ernst machen: Theresa May
Könnte Ernst machen: Theresa May

Bild: Jack Taylor/WPA Pool/Getty Images

Was Rechtspopulismus angeht, haben 2016 die meisten politischen Akteure in Europa auf Visegrád-Staaten oder Österreich geschaut, mit gelegentlichen Seitenblicken auf eine in Deutschland mitregierende CSU. Theresa May aber hatte bislang überwiegend eine andere Fama: Die einer im Grunde unideologischen Konservativen, die, wie andere Konservative nur das Nationale wieder entdeckt habe. Dazu gehöre leider auch, europäische Arbeitnehmer in jeder Hinsicht wieder als Ausländer und Fremde zu behandeln.

Das Brexit habe die seit 13. Juli 2016 als Premierministerin des Vereinigten Königreichs amtierende May eigentlich nicht gewollt. Aber der Respekt vor dem Volkswillen nötige sie, dem unbedingte Geltung zu verschaffen, so das Story-telling vor allem der ihr gewogenen Tabloids. Seit sie in Downing Street 10 eingemietet ist, gelte es nur noch zwischen „hard“ und „soft“ zu unterscheiden. Der Austritt aus der EU dagegen scheint dem Grund nach nicht mehr verhandelbar.

Dass das in trockenen Tüchern wäre, kann freilich nicht behauptet werden. Da ist zum einen das noch ausstehende Urteil des Supreme Court, ob und inwieweit das britische Parlament gehört werden muss, bevor das Austrittsverfahren in Gang gesetzt wird. Da ist andererseits die völlig offene Frage, wie die EU es bewerten wird, dass eine Erklärung gemäß Artikel 50 AEUV „im Einklang mit seinen [britischen] verfassungsrechtlichen Vorschriften“ stehen wird.

Die viertägige mündliche Verhandlung ab 5. Dezember in der Londoner Middlesex Guildhall war ein Medienereignis ersten Ranges: Liveübertragung in BBC, Sky, ITN und Channel 4 News, Live-Blogs bei allen größeren Webzines. Die Aufmerksamkeit galt über die Rechtsfrage der Gewaltenteilung hinaus den Mitgliedern des Gerichts, das in der bislang einmaligen Vollbesetzung aller 11 Richterinnen und Richter tagte.

Der Ausspruch des Supreme Court zu einer „Ermächtigung“

Die Vorbereitung dazu hatte wieder einmal die Daily Mail übernommen. Am 2. Dezember setzte das Revolverblatt die Mitglieder des Supreme Court in eine Skala der „Europhilie“, Fotos wie auf Fahndungsplakaten und einseitig erzählte Lebensläufe inklusive. Überschrift: „11 unzuverlässige Individuen werden ein Fall prüfen, der den Mehrheitswillen zum Brexit vereiteln könnte“. Damit führte die Postille im Besitz von Jonathan Harmsworth, 4. Viscount Rothermere, die -> Kampagne fort, die es mit den Richtern der Vorinstanz begonnen hatte: Die der Personalisierung, fehlenden Kompetenz und potentiellen Korruption der höchsten Judikative Englands, die sich bisher für eine Stärkung des ältesten europäischen Parlaments ausgesprochen hat.

Das Urteil des Supreme Court könnte in Teilen bereits überholt sein, bevor es gesprochen wird. Noch während der gerichtlichen Anhörung setzte Theresa May eine Abstimmung im Parlament an. Der Deal vom 7. Dezember: Zustimmung der Abgeordneten zur offiziellen Austrittserklärung Englands aus der EU für Ende März gegen Vorlage eines konkreten Ablaufplans des Austritts durch die Regierung. Die Motion wurde mit rund 400 von 650 Stimmen angenommen.

Damit hat Oppositionsführer Jeremy Corbyn (Labour) vor allem die eigene Partei aus einer äußerst unbequemen Lage befreit. Während vor der Volksbefragung vom vergangenen 23. Juni Labour ganz überwiegend gegen den Brexit Position bezogen hatte, ist ihr genau in der Frage die angestammte Klientel davon gelaufen. Je stärker Regionen und Bezirke von Deindustrialisierung betroffen sind, ohne dass Ersatz durch Dienstleistungen geschaffen wurden, desto klarer ist die Aussage zugunsten des Brexit. Der Blick auf die eigenen Wahlsprengel hat viele Abgeordnete dazu gebracht, lieber auf diese künftigen Wählerstimmen zu hören, statt die europäische Perspektive beizubehalten.

Formell wäre mit dem 7.12. dem -> Urteil des High Court von Anfang November Genüge getan. Die Vorgängerinstanz zum jetzigen Verfahren hatte erklärt, dass die Regierung nicht alleine die Brexit-Erklärung abgeben dürfe, sondern dafür die Zustimmung des Parlaments benötige. Es wird nun darauf ankommen, ob der Supreme Court nicht doch die Parlamentsentscheidung inhaltlich zu konkretisieren versuchen wird. Denn was bislang vorliegt, verdient allenfalls die Beschreibung, eine Ermächtigung zu sein, die wahlweise konturlos oder missbrauchbar wäre. Eine inhaltliche Auseinandersetzung zum Austrittsverfahren, vor allem aber zu den notwendigen innerbritischen Gesetzesanpassungen hat noch nicht stattgefunden.

Kritische Stimmen in den eigenen Reihen zum Schweigen gebracht

Das dürfte Theresa May genauso bewusst sein wie der Umstand, dass es ihr schwer fallen dürfte, das Versprechen einzulösen, binnen der nächsten 3 Monate eine konkrete, aufgeschlüsselte Road-Map vorzulegen. Die chaotischen Arbeitsverhältnisse innerhalb der britischen Regierung bei Bewältigung des Pensums, die nur von der Presse kolportiert worden sind, haben mit dem gestrigen Rücktritt von Ivan Rogers ihre Bestätigung gefunden.

Seit November 2013 britischer Botschafter bei der EU, hat der konservative Rogers in seiner Abschiedsmail an das Personal der Vertretung mit ungewöhnlich deutlichen Worten die Inkompetenz und mangelnde Organisation in der Regierung zu Fragen des Austritts gerügt. Auslöser im Vorfeld war gewesen, dass Rogers den Standpunkt der EU nach London übermittelt hatte, wonach neuen wirtschaftlichen Beziehungen zur Union bis zu zehn Jahre Verhandlungen vorausgehen könnten. Dafür war Rogers als „Pessimist“ und „Schwarzmaler“ beschimpft worden.

Es könnte also durchaus als taktische Maßnahme der Ablenkung betrachtet werden, wenn May nun verstärkt ein anderes Thema in den Mittelpunkt stellt: Die Kündigung der Europäischen Menschrechtskonvention durch das Vereinigte Königreich. Die nach Weihnachten sorgfältig lancierte Indiskretion, die Kündigung könne „gegebenenfalls erst nach Abschluss des Brexit“ erfolgen, zeigt: Die Pläne sind sehr konkret. Und sie liegen auf einer Linie mit dem Nationalismus, der die Tories mehrheitlich erfasst hat.

Denn bereits im April des vergangenen Jahres hatte May, damals noch Innenministerin, die Konvention hart angegriffen. Begründung: Sie „bindet die Hände des Parlaments, mehrt nicht unseren Wohlstand, dient nicht unserer Sicherheit, weil sie daran hindert, gefährliche Ausländer zu deportieren – und ändert nichts an der Haltung von Regierungen wie die Russlands, wenn es um Menschenrechte geht“.

Loslösung vom Europäischen Wertekanon

Das klang zu der Zeit noch als Begleitmusik zur Brexit-Kampagne, um vordergründig eine kritische Haltung zu Europa zu demonstrieren. Allerdings gab es schon Stimmen, ob mit dieser vollständigen Abkehr vom Europäischen Werte- und Rechtssystem May eine breitere Vision der Loslösung des Vereinigten Königreichs verfolge und damit nach der Stellung von David Cameron greife.

Seitdem Theresa May Premier ist, könnte daraus bitterer Ernst werden. Nicht nur, dass im Oktober die Tonlage verschärft wurde. Die Konvention stehe britischen Streitkräften im Weg, weil sie sich zu einer „ärgerlichen Industrie von Klagen gegen Soldaten“ entwickelt habe. Sondern weil sich die Menschenrechte dazu eignen, von den schweren Zeiten abzulenken, die Großbritannien in wirtschaftlicher wie politischer Hinsicht bevorstehen. Eine tiefgreifende Debatte um Grundfreiheiten und deren Umsetzung würde vor allem die Teile der Zivilgesellschaft binden, die sich für einen Verbleib im Europäischen Kontext ausgesprochen haben.

Dass Theresa May und ihr Zirkel für internationale Konventionen wenig übrig hat, die ihrem politischen Weltbild widersprechen, hat sich in ihrer Amtszeit als Innenministerin gezeigt. In sechs Jahren wurden nicht nur die Sicherheitsgesetze über jede grundrechtlich geschützte Grenze hinaus ausgedehnt. Sondern seit zwei Jahren nimmt das britische Exekutiv ausdrücklich auch wieder Staatenlosigkeit in Kauf, wenn es um die Sanktionierung von Taten geht, die sie als terroristisch einstuft. Der Entzug der Staatsangehörigkeit als „Strafe“ war bereits der Rückfall in präeuropäische Verhältnisse, der in absehbarer Zeit vollendet würde.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Joseph Seidl

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