Die EU und das Schäuble-Paradoxon

EU/Deutschland Mit Notstandsrhetorik destabilisiert der deutsche Finanzminister das Europäische Projekt. Warum?

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„Brückenbauer“ Schäuble? Also, bitte
„Brückenbauer“ Schäuble? Also, bitte

Bild: JOHN MACDOUGALL/AFP/Getty Images

Zu Wolfgang Schäuble ist vielen schon vieles eingefallen: Hardliner, Sphinx, gnadenloser Rüpel. Einen besonders lustigen Einfall hatte jüngst der ARD-Hauptstädter Michael Stempfle, der die personifizierte CDU-Wucht allen Ernstes zum „Brückenbauer“ umdeklariert hat: Weil der derzeitige deutsche Finanzminister der Europäische Union (EU) mit „konkreten Reformprojekten“ helfen will, die „mehr Unterstützung für Krisenländer“ vorsehen würden.

Bei „zentralen Problemen“ müsse die Europäische Union „beweisen, dass sie diese schnell lösen kann“. Wenn „die Kommission nicht mitut, dann nehmen wir die Sache selbst in die Hand, lösen die Probleme eben zwischen den Regierungen. Dieser intergouvernementale Ansatz hat sich in der Euro-Krise bewährt.“

Partikularisierung vs. Einigung

Diese Aussichten, die Schäuble vorvergangenen Sonntag in Welt und Bericht aus Berlin vorgestellt hat, sind aber für die EU alles andere als tragfähig. Sie bedeuten im Gegenteil eine tief greifende Schwächung durch ein besonders prominentes Mitglied der deutschen Bundesregierung.

Die Prognose zur Erfolgsaussicht ist keine bloße Spekulation. Sie misst sich an dem Projekt, das Schäuble zusammen mit Karl Lamers für die CDU 1994 formulierte, das „Europa der zwei Geschwindigkeiten„. Zwar hat die EU zwischenzeitlich eine bedeutende Erweiterung hinsichtlich der Zahl der Mitgliedstaaten erfahren. Und mit dem Lissaboner Vertrag erfolgte 2009 die Verdichtung der Europäischen Gemeinschaft zur Union.

Aber der Integrationsprozess wurde wesentlich von inhaltlichen Zerteilungen relativiert. Um nur zwei besonders augenfällige Beispiele zu nennen: Gleich ob Schengener Raum oder Europäische Wirtschafts- und Wahrungsunion („Eurozone“) mit jeweils eigenen Akteuren – das Ergebnis ist faktisch ein Kerneuropa, auch wenn die deutschen Unionsparteien das Wort sorgsam vermeiden.

Eingebetteter Medieninhalt

Die Probleme, die Schäuble und Lamers ausdrücklich als Anlass ihrer Denkschrift nannten, hat das nicht gelöst. 22 Jahre später ist die „massenhafte Arbeitslosigkeit“ in weiten Teilen der Staatengemeinschaft eine der jungen, künftig bestimmenden Generation. Und „die Migranten“ von damals sind heute um „die Flüchtlinge“ angewachsen; beide werden weiterhin als „äußere Bedrohungen“ wahrgenommen.

Dafür eine angeblich langsame oder unwillige EU-Kommission verantwortlich zu machen, ist nicht nur historisch falsch. Es ist unredlich.

Beispiel Arbeitsmarktpolitik: Allgemein bekannt ist, dass die EU-Institutionen hier nahezu ausschließlich Koordinierungsfunktion haben, während die konkrete Umsetzung den Mitgliedstaaten obliegt. Und auch vorbehalten bleibt, wie sich etwa an der Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern 96/71/EG erweist: „Das Gemeinschaftsrecht hindert die Mitgliedstaaten nicht daran, ihre Gesetze oder die von den Sozialpartnern abgeschlossenen Tarifverträge auf sämtliche Personen anzuwenden, die – auch nur vorübergehend – in ihrem Hoheitsgebiet beschäftigt werden, selbst wenn ihr Arbeitgeber in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist.“ Während in Deutschland sich der Arbeitsmarktprotektionismus diesbezüglich im Arbeitnehmer-Entsendegesetz zu einem -bei weitem nicht perfektionierten- Instrument für Mindestarbeitsbedingungen entwickelt hat, steht diese paradigmatische Diskussion in Österreich erst an. Sie ist eine rein innenpolitische.

Beispiel Flüchtlinge: Abgesehen davon, dass sich das Dubliner Instrumentarium als untauglich erwiesen hat, ist gerade hier derzeitiges, nationales Regierungshandeln in Teilen offen konträr zum Europäischen Gedanken. Getragen vom „Prinzip der Solidarität und der fairen Verteilung von Verantwortung“ hatte am 22. September 2015 der Ministerrat die Verteilung von Flüchtlingen auf die EU-Mitgliedstaaten verbindlich beschlossen. Damit sollte auch eine Entlastung der besonders stark geforderten Länder Italien und Griechenland bewirkt werden. Die ohnehin zur Kontingentierung sich äußerst kritische verhaltende, aus vier Staaten bestehende Visegrád-Gruppe hat nach Zaunerrichtungen mit Ungarn nun abermals einen Wortführer: Mit dem für den 2. Oktober angesetzten Referendum zu den Flüchtlingsquoten nimmt die Regierung unter Viktor Orbán den Bruch von EU-Recht offen in Kauf. Gleichzeitig zum Beschluss des Ministerrats wurde aber auch bekannt, dass per 23.9. gegen 19 EU-Mitgliedstaaten insgesamt 37 Verfahren wegen der Verletzung des Europäischen Asylrechts eingeleitet waren. Davon entfallen 4 alleine auf Deutschland.

Chauvinismus vs. Gemeinschaftsgedanke

Die wenigen Beispiele zeigen: Die Tendenz nationaler Regierungen, eigene Fehlleistungen, Unterlassungen und falschen Politiken der EU anzulasten, ist ungebrochen. Die Äußerungen von Schäuble sind aber nicht nur geeignet, diese Tendenz zu verstärken. Sondern es ist zum ersten Mal, dass ein Bundesminister, zumal eine der zentralen Figuren deutscher Politik der letzten zwei Jahrzehnte, die Exekutive der Europäischen Union offen delegitimiert. Das betrifft vordergründig die institutionelle Rolle der Kommission, erst recht aber die inhaltliche Kompetenz der EU.

Denn die Politikfelder, die Schäuble in den Interviews berührt hat, sind gerade die, die bereits in den Römischen Verträgen für die EWG gekoren wurden und für die in den folgenden Jahrzehnten eine Arbeitsweise ihrer integrierenden Behandlung aufgestellt worden ist. Über welche dieser Themen eine deutsche Bundesregierung mit welchen anderen Regierungen mit welchem Ziel gerne separat verhandeln würde, teilt der Bundesfinanzminister nicht mit.

Hierzu gibt es ebenfalls einen Vergleichsmaßstab, den Wolfgang Schäuble als Erfolg verstanden wissen will, die sogenannte Euro-Rettung. Unter anderem für die Rosa-Luxemburg-Stiftung und Attac ist kürzlich eine Zusammenfassung der Ergebnisse des intergouvernementalen Handelns, das der Finanzminister weiter in Anspruch nehmen will, vorgestellt worden. Das Fazit ist vernichtend: Während eine gesamte Volkswirtschaft kalt enteignet wird, kommt nicht nur kein Geld, sondern erst recht keine strukturelle Verbesserung bei den Menschen am Peleponnes an. Gerade an dieser Entwicklung gilt es festzustellen, dass eine Exit-Stratgie, das griechische Oxi, derzeit nur verschoben, aber nicht aufgehoben ist.

Anders als beim sogenannten Brexit wäre dann Austrittsgrund nicht eine tendenziell fremdenfeindliche Ablehnung „ausländischer“ Arbeitnehmer, die die Konservativen im Vereinigten Königreich eint. Sondern es wäre das Oxi die konsequente Zurückweisung eben jenes Handelns zwischen Regierungen, speziell unter deutscher Anleitung, das nicht nur das griechische Parlament und die Bevölkerung faktisch entmündigt, sondern sich dazu auch der Unterstützung EU-fremder Institutionen wie des IWF bedient.

Derart ihrer Politikfelder benommen, blieben dann für die EU als Ganzes gesehen nur noch Kapitalfreiheit sowie innere und äußere Sicherheit als Klammer, so wie sie von der derzeitigen britischen Innenministerin Theresa May stellvertretend für die Conservative Party propagiert wird.

Besonders beunruhigend aber ist die notstandsähnliche Rhetorik, mit der Wolfgang Schäuble seine Pläne präsentiert, seit 1994 über die Griechenlandkrise bis 2016: Der kritische Moment, die Dringlichkeit im Krisenhaften, der vorgebliche Druck, „schnell liefern zu müssen“.

Dezisionismus vs. Integration

Das ist mehr als Alarmismus. Die Äußerungen Schäubles enthalten nun alle Elemente eines Dezisionismus, den Carl Schmitt im berüchtigten Einleitungssatz seiner „Politischen Theologie“ (1922) verschlagwortet hat: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Er begründet die Entgrenzung in Ansehung eines auch nur vorgestellten Notfalls, der Vorbehalt eigener, letztgültiger Auslegung von Normen und damit sogar des Prinzips Europäischer Zusammenarbeit.

Dezision gegen Integration ist keinesfalls ein nur deutscher oder ein Diskurs, der auf die EU besonders zuträfe. Aus der Natur des parlamentarischen Demokratie hat sich ergeben, dass „Entscheiden und Handeln“ sich als Prärogative der Exekutiven etabliert hat, während der „Prozeß beständiger Erneuerung, dauernden Neuerlebens“ (Rudolf Smend, „Staatsrechtliche Abhandlungen“, 1928) in den parlamentarischen Foren stattfindet. Der Diskurs ist unübersehbarer Teil der Austarierung von Macht, in der das Parlament nicht nur Legislative ist, sondern die Kontrolle über die Exekutive ausübt. Er ist in seiner Synthese die gelebte und erlebte Verfassungswirklichkeit Deutschlands.

Diesen kontinuierlichen Prozess will Wolfgang Schäuble für Europa in Ansehung von Krisen zum völligen Stillstand bringen. Wenn er von Institutionen spricht, kommt das Europäische Parlament überhaupt nicht vor. Und: „Von einer Vertiefung will er nichts mehr hören“. Selbst die Europäische Exekutive, die Kommission wird im Licht seiner Ausführungen zur reinen Befehlsempfängerin dann nicht mehr einzelstaatlicher Interessen, sondern nationaler Chauvinismen. Seine Haltung entspricht der von Schmitt noch in den 1970er Jahren, als dieser die „Integration, das große Pacebo“ verunglimpfte.

Ob Schäuble die Notsituation objektiv erachtet oder wie Schmitt sie auch persönlich „aus der Erfahrung bzw. dem Gefühl einer permanenten Bedrohung“ (Klaus Roth, „Carl Schmitt ein Verfassungsfreund?“, 2005) heraus definiert, werden Biographen zu beantworten haben. Die Hinweise auf einen sehr subjektiven Einschlag liegen jedenfalls vor.

Schäuble dient seinem Land seit jetzt mehr als 40 Jahren, zumeist an vorderster Linie als Botschafter, hochrangiger Minister, Bevollmächtigter seiner Kanzler und als zeitweiliger Vorsitzender der größten deutschen Volkspartei. Es ist leicht vorstellbar, dass die permanenten Herausforderungen, zu denen auch das lebensbedrohliche Attentat und strafrechtliche Ermittlungen gehören, zu einer Überforderung geworden sind. Glaube und Familie, die er im ausführlichen Interview mit Heribert Prantl und Matthias Drobinski vorgestellt hat (Süddeutsche Zeitung, „Halt, Geborgenheit und Gemeinschaft„, 20.5.2010), sind dann kein Halt mehr, sondern eine Zuflucht.

So können die Äußerungen von Wolfgang Schäuble dann auch als Versuch gewertet werden, eine Art politisches Testament zu hinterlassen. Der heute 73-jährige Nestor deutscher Realpolitik wird bis zum Schluss der Legislaturperiode an seinem Platz bleiben. Aber das Beispiel von Joachim Gauck ist prägend. Obwohl nur geringfügig älter und ein eher repräsentierendes Amt bekleidend, hat der Bundespräsident auf eine Fortsetzung seiner Tätigkeit verzichtet. Sehr viele haben diesen Beschluss zwar bedauert, aber doch als weise Entscheidung gewertet.

Prätendenten, den destruktiven Teil von Schäubles Hinterlassenschaft aufzunehmen, gibt es genug. Dabei muss nicht zum rechten Rand geschielt werden, wo der Schmitt’sche „Placebo“-Ausspruch zur kaum verdeckten Chiffre für den ebenso verächtlichen Vergleich vom Parlament als „Quatschbude“ geworden ist. Sondern es sind alle die, die in seltsamer Einmütigkeit Schäubles Worte beschwiegen haben, ohne den undemokratischen und antiparlamentarischen Grundton nachdrücklich zurück zu weisen.

Denn auch das bedeutet Integration – scheitert sie in Europa, schlägt das Scheitern im Leben und Erleben unweigerlich auf die Glieder durch. Sie sind die Menschen, wie der Brexit beweist, die von einem Tag auf den anderen als Ausländer, als Fremde zu behandeln sind, diesseits und jenseits des Ärmelkanals. Der Rest sollte nicht einfach nur Wiederholung von Geschichte sein.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Joseph Seidl

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Joseph Seidl

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