Die immense Kraft des Jein

Brexit Mit seiner Entscheidung hat der High Court of Justice die Rolle des britischen Parlaments wieder aufgewertet, aber nicht die Machtverhältnisse ausgeglichen

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Turbulente Zeiten auf der Insel
Turbulente Zeiten auf der Insel

Bild: NIKLAS HALLE'N/AFP/Getty Images

Nun ist sie also da, die Situation, die viele sich gewünscht und ebenso viele befürchtet haben. Die Klagen gegen den Anspruch der britischen Regierung, alleine über den Brexit zu entscheiden, haben einen ersten Erfolg verzeichnet.

Mit der gestrigen Entscheidung des High Court unter Vorsitz von Lordoberrichter Thomas of Cwmgiedd ist vorerst klar gestellt: Den Beschluss, gemäß Artikel 50 des EU-Vertrages aus der Europäischen Union auszutreten, kann nur das Parlament fällen. Als "Aspekt der Souveränität des Parlaments [gilt], dass die Krone und damit die jeweilige Regierung durch Ausübung von exekutiven Prärogativen nicht die Gesetzgebungskompetenz des Parlaments übersteuern kann".

Selbst wenn die Entscheidung noch nicht rechtskräftig ist und zweifellos Premier Theresa May die Berufung betreiben wird, ist und bleibt die Phalanx der Remain-Befürworter groß. Sie umfasst im Londoner Unterhaus nicht nur Oppositionsparteien. Auch innerhalb der Tories sind Schätzungen zufolge rund die Hälfte der Abgeordneten keinesfalls von einer Kündigung Europa gegenüber überzeugt.

Hier mag sich auszahlen, dass May mit der Vorlage eines straffen Zeitplans für den EU-Austritt und dessen Bezeichnung als "hard" einen -> innenpolitischen Verhandlungsraum geschaffen hat. Die Verhandlungsmasse innerhalb der eigenen Partei wäre dann die zwischen hart und "soft", ohne den Austritt selbst in Zweifel zu ziehen. Ob das auch der derzeitigen Stimmungslage im Land entspricht, ist allerdings fraglich.

Nicht Wenige haben zur Kenntnis genommen, dass sich das Britische Pfund in schwersten Turbulenzen befindet. Befeuert von der bangen Frage nach einer auf einer Insel isolierten Ökonomie kommt hinzu, dass in der ohnehin unter Deindustrialisierung leidenden Volkswirtschaft selbst das Zugpferd, die Finanzbranche und damit die Londoner City, sich lautstark mit Abwanderungsgedanken trägt.

Schließlich ist da noch die Fratze, die mühsam unter dem Deckel gehaltene dunkle Seite des Brexit. Seitdem Ende August in Essex Arkadiusz Jóźwik von einer Bande Jugendlicher umgebracht wurde, nur weil er polnisch sprach, ist evident: Die von Theresa May noch als Innenministerin forcierte Kontrolle der Einwanderung, unter anderem als protektionistische Maßnahme für den Arbeitsmarkt gedacht, ist in offenen, unkontrollierten, fremdenfeindlichen Hass umgeschlagen. Mit dem internationalen Anspruch eines Commonwealth of Nations und seinen Bevölkerungen ist das schwerlich zu vereinbaren.

Welche Pläne May und ihre in die Regierung berufenen Weggefährten tatsächlich verfolgen, ist derzeit kaum greifbar. Auch Margaret Thatchers Wirken wurde erst nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt hinreichend gewürdigt - als das eines Kriegspremiers und der Frau, die den Gewerkschaften das Kreuz brach.

Die konkreten Schritte von Theresa May lassen sich aber konturieren. Die Konfrontation mit dem Europäischen Gedanken -einer ihrer Vorschläge lautete unter anderem, die Europäische Menschenrechtskonvention zu kündigen- ist mehr als isolationistisch. Sie stellt das Land, das mit der Magna Carta die repräsentative Vertretung gegenüber der Majestät von Gottes Gnaden begründet hat, vor eine Wahl: Gilt nach wie vor das Prinzip eines gewählten Parlaments, das für das Volk spricht? Oder wird künftig das Volk direkt sprechen?

In der Hinsicht ist das Vereinigte Königreich heute allerdings ein Entwicklungsland. Wo etwa die Schweiz sogar verfassungsändernden Initiativen auf Bundes- wie Kantonsebene ein weitreichendes, durchorganisiertes Instrument des Volksvotums bereit stellt, verbleibt das in Großbritannien auf der Ebene einer Volksbefragung. Der Charakter der Abstimmung vom 23. Juni beruht alleine auf der politischen Erklärung des Amtsvorgängers von May, David Cameron, das Ergebnis als verbindlich anerkennen zu wollen. Das ist in diesem Stadium Populismus in Reinkultur.

Die Entscheidung des High Court stellt die hergebrachte Ordnung her. Sie ist die der Gewaltenteilung und eines Checks and Balances zwischen Exekutive und Legislative. Die Partie, die sich in Großbritannien spielt, weist über Europa hinaus: Ob unter demokratischen Regeln das Primat eines Kabinetts und damit einer Handvoll Personen zu herrschen vermag. Das wäre weder repräsentativ noch ein Ausdruck des Demos. Aber derzeit, nicht nur in Großbritannien, ist es ungeheuer populär.

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Geschrieben von

Joseph Seidl

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