Die Stunde der Scharfmacher

Deutschland/Türkei Mit ihrer Regierungspolitik haben die deutschen Unionsparteien wesentlich zum vergifteten Klima beigetragen. Damit sollte Schluss sein

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Die Stimmung ist schon länger eisig: Kanzlerin Merkel und Präsident Erdoğan, hier beim G20-Gipfel im September 2016
Die Stimmung ist schon länger eisig: Kanzlerin Merkel und Präsident Erdoğan, hier beim G20-Gipfel im September 2016

Photo by Jesco Denzel/Bundesregierung/Getty Images

Zwischen Deutschland und der Türkei ist so einiges seit Jahren klärungsbedürftig. Woher kam der Schwenk, die Beitrittsverhandlungen zur EU mehr und mehr durch die Formel einer "privilegierten Partnerschaft" zu ersetzen? Wer sind heute diejenigen, die Verhandlungen überhaupt hinter dem Euphemismus "einfrieren" verstecken und "abbrechen" meinen? Und wie sollte es auch nur in der Frage des militärischen Bündnisses weitergehen, wenn angesichts dieser seit einem Jahrzehnt in der Schwebe gehaltenen Umständen zum Ausdruck kommt, die Türkei teile nicht den "demokratischen Wertekanon", den eine deutsche Verteidigungsministerin, seltsam genug, in der NATO verortet hat?

Nur zwei Jahre nach Aufnahme der Beitrittsverhandlungen veröffentlichte der Politikwissenschaftler Andreas Maurer 2007 beim Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit den Essay "Alternativen denken! Die Mitgliedschaftspolitik der Europäischen Union vor dem Hintergrund der Beziehungen zur Türkei". Maurer begründete keineswegs stringent, dafür umso verlockender, dass es Alternativen zum türkischen EU-Beitritt gebe. Er eilte damit der Politiken der Unionsparteien in wesentlichen Punkten nach.

Interessanter war nämlich die Einrahmung. Zeitgleich erschienen ebenda zwei Analysen, wonach sich die Türkei auf dem Weg zu einem Nach-Kemalismus befinde und dem Land eine Islamisierung bevorstehe. Dass das mehr eine Schreckensvision bediente als die Realpolitik wurde noch einmal 3 Jahre später deutlich. Als Christian Wulff davon sprach, dass der Islam "inzwischen auch zu Deutschland" gehöre und Orient und Okzident nicht mehr zu trennen seien, erntete der Bundespräsident nicht nur Kritik, sondern regelrechte Feindschaft vor allem aus seiner eigenen parteilichen Heimat.

Denn inzwischen hatte die Bundesvorsitzende der sich christlich nennenden Union, Angela Merkel, seit dem Jahr 2000 und als Kanzlerin seit 2005 ganze Arbeit geleistet. 2004 kam es zum Eklat, als die damalige Oppositionsführerin ein Schreiben an alle Konservativen in der EU richtete und sich entgegen der offiziellen Bundespolitik ausdrücklich gegen den Beitritt der Türkei aussprach. Im Bundestagswahlkampf 2005 wiederholte sie die Aktion, diesmal zusammen mit CSU-Chef und Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber. Kopien des Pamphlets erhielten jetzt auch zahlreiche Staats- und Regierungschefs.

Es ist müßig, darüber zu spekulieren, ob die Entwicklung in der Türkei anders verlaufen wäre, wenn die Einbindung in und die Annäherung an Europa stärker vorangetrieben worden wäre. Aber dass die Politik der deutschen Unionsparteien und der Kanzlerin in Ankara als Wortbruch aufgefasst wurde, ist eine Tatsache. Selbst in Brüssel und Straßburg wurden die Aktionen von CDU und CSU als Verstoß gegen die rechtlich bindenden Beschlüsse zu den Beitrittsverhandlungen angesehen. Eine Zurückweisung dieses Rahmens unter Hinweis auf eine angebliche "Gefährdung des Europäischen Integrationsprozesses" war ein Affront, der es den politischen Anführern der heutigen Türkei immens erleichtert, keine Rücksicht zu nehmen.

Undemokratische Retorsionsversuche

Wenig hilfreich ist in dieser Situation, wenn in Bezug auf die Pläne Erdogans zur Errichtung eines Präsidialsystems von "Operettensultanat" gesprochen wird. Denn der Machtanspruch der derzeitigen Führung in Ankara richtet sich auch auf die Errichtung einer eigenen Hegemonialmacht an der buchstäblichen Schnittstelle von Orient und Okzident am Bosporus. Sie ist von strategischer Bedeutung entlang neuer Konfliktlinien bei gleichzeitigem Wegfall von bisherigen Stabilitätsgaranten. Durch Zurückweisung der Türkei hat es vor allem die deutsche Politik versäumt, zumindest den Versuch zu unternehmen, dies als Brückenfunktion aufzufassen und zu kanalisieren.

Noch weniger hilfreich ist es, in Deutschland oder Europa den demokratiewidrigen Präzendenzfall schaffen zu wollen. Die Forderung nach Auftritts- und Redeverboten für türkische Regierungsmitglieder oder Politiker widerspricht der Versammlungsfreiheit, die hierzulande auch Ausländer gemäß Artikel 11 der Europäischen Menschenrechtscharta in Verbindung mit Artikel 2 Grundgesetz genießen. Dies in die Formulierung einzukleiden, es werde sonst Werbung für ein undemokratisches System ermöglicht, kann so nur als Eulenspiegelei aufgefasst werden, die den deutschen wie europäischen Rechtsbruch ungenügend kaschieren würde.

Ja, in der Türkei ist eine Umwälzung der Demokratie im Gang. Ja, sie tendiert in Richtung einer Autokratie. Und nein, sie bemisst sich nicht allein am Bestreben, ein Präsidialsystem zu installieren. Dieses gibt es auch anderswo: Als unvollkommenes etwa in Frankreich. Dort gibt es noch einen Ministerpräsidenten als nominellen Chef der Exekutive, während die Leitlinien der Politik im Elysée-Palast definiert werden. Und es ist ein Charakteristikum des US-Systems: Der gewählte Präsident, sogar mit eigener Gesetzgebungsgewalt ausgestattet, ist höchster Vertreter seines Landes, Oberbefehlshaber der Streitkräfte und Regierungschef in einer Person. Es hat, mal gut, mal schlecht, ein paar hundert Jahre lang funktioniert.

Das undemokratische in den Plänen der in der Türkei Regierenden liegt vor allem in der angestrebten Kujonierung des Parlaments, das im Belieben des künftigen Staats- und Regierungschefs aufgelöst werden könnte. Das aber, die Zurückdrängung der Legislative und damit des Parlamentarismus ist ein Phänomen, das mittlerweile fast alle repräsentativen Demokratien krisenhaft erfasst hat.

Im Vereinigten Königreich mussten gleich zwei Instanzen der Verfassungsgerichtsbarkeit ausurteilen, dass nicht Theresa May alleine über die Zukunft des Vereinigten Königreich im Zuge des EU-Austritts bestimmen dürfe, sondern sie Ober- und Unterhaus einzubinden habe. Über diesen Parlamentarismus hat Italien erst kürzlich im Rahmen eines Volksentscheids abgestimmt und ihm zu einem ungeahnten wie unerwarteten Revival verholfen. Die Liste lässt sich beliebig verlängern.

So wie die Europäische Union unter maßgeblichem Einfluss deutscher Regierungspolitik die Annäherung an die Türkei hintertrieben hat, ist sie heute nicht in der Lage, direkten Einfluss zu nehmen. Die höchstmögliche Ingerenz wäre jetzt die Wahlbeobachtung durch die OECD OSZE unter Benennung, dass und welche Oppositionspolitiker inhaftiert sind, dass und welche Journalisten an der Arbeit gehindert werden, dass und welche Gegenveranstaltungen zum Referendum (nicht) stattfinden dürfen. Und es wäre Aufgabe derjenigen, die "Demokratie" vorgeben zu verstehen, auch über informelle Kanäle darüber aufzuklären, was die Quintessenz von "undemokratisch" ist. Gegenteilige Lautsprecher gibt es genug, und sie tragen zur Lage nichts bei außer zu deren Verschärfung.

Das Wort aber, ob es gefällt oder nicht, werden die türkischen WählerInnen haben.

(editnote 10.3.2017: Im Text habe ich fälschlicherweise OECD statt OSZE verwendet. Das Versehen bitte ich zu entschuldigen)

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Geschrieben von

Joseph Seidl

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