Personen. Nicht Kapitalien.

Europäische Union Der Brexit hat die Diskriminierung nach Staatsangehörigkeiten salonfähig gemacht. Die EU verhält sich dazu bemerkenswert zurückhaltend

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Zugang gesperrt: Wie frei sich Menschen zukünftig noch in Großbritannien bewegen können, wird nun neu verhandet
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Foto: DANIEL LEAL-OLIVAS/AFP/Getty Images

Jett Cooper zerwürfelt es gerade die Existenz. Seit über 30 Jahren lebt die mit einem Briten verheiratete Holländerin im Vereinigten Königreich. Sie hat in der Zeit drei Kinder groß gezogen und zu ihren beruflichen Tätigkeiten stets Steuern und Beiträge zu den Sozialversicherungen gezahlt. Und doch steht ihr wie rund drei Millionen anderen EU-Bürgern eine Statusüberprüfung und gegebenenfalls die Ausweisung bevor, berichtet die in London erscheinende Tageszeitung the Guardian.

Die Regierung von Premier Theresa May hat in den vergangenen Wochen wissen lassen, dass als Nicht-Brite aufenthaltsberechtigt künftig nur sein wird, wer den Nachweis führt, "den eigenen Lebensunterhalt finanzieren zu können und über umfassenden Krankenversicherungsschutz zu verfügen". Zu Letzterem genügt nicht, einen Anspruch auf Zugang zum Nationalen Gesundheitsdienst NHS erworben zu haben. Damit hat die Regierung der Tories Bürger der Europäischen Union noch schlechter gestellt als deren Mitgliedstaaten wiederum Nicht-EU-Bürger bei Beantragung eines sogenannten Schengen-Visums.

Das und sein Gegenstück der in der EU lebenden Briten ist wesentlicher Teil des "Rosinenpickens", das schon vor Monaten aus Brüssel und Berlin Richtung London zurückgewiesen worden ist. Gemeint ist ein Ausscheiden des Vereinigten Königreichs aus der Union bei gleichzeitiger Verhandlung über ein neues Wirtschaftsabkommen. Ziel eines solchen "soft Brexit" wäre gewesen, weiterhin den freien Verkehr von Waren, Kapital und Dienstleistungen zu gewährleisten, aber ohne Freizügigkeit der Personen.

Es wäre nicht nur eine Umgehung des Wortlautes Europäischer Normen, wonach "jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten" ist, wie es beispielsweise in Artikel 18 AEUV heißt. Es wäre der direkte Faustschlag gegen den Geist der Europäischen Einigung aus der Präambel der Römischen Verträge von 1957, "einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker zu schaffen" - Völker, nicht Kapitalien.

Inländervorrang statt Diskriminierungsverbot

Dennoch greift auch im Europa der verbleibenden 27 ein Grundton Platz, der die tatsächlichen oder vermeintlichen Vor- wie Nachteile der Personenfreizügigkeit betrifft.

Der Schweiz droht zwar kein spektakulärer Austritt, dafür das Ergebnis eines seit Jahren schleichenden Prozesses. Wenngleich nicht Mitglied der EU, ist die Helvetische Konföderation durch bilaterale Abkommen politisch, wirtschaftlich und kulturell eng mit der Union verwoben. Das gilt insbesondere für die gegenseitige Anerkennung des Prinzips der Personenfreizügigkeit. Die Schweizerische Volkspartei (SVP) drängt auf dessen Aufkündigung, seitdem sie das landesweite Migrationsreferendum im Februar 2014 und das im Kanton Tessin zu den aus Italien stammenden Grenzgängern (September 2016) gewonnen hat. In den Startlöchern befindet sich nun eine abermalige Volksabstimmung, die genau diesen Aspekt des Verhältnisses zwischen der Schweiz und den Europäischen Institutionen ausloten soll.

Auch die jüngsten Äußerungen von Österreichs Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) in seiner Grundsatzrede vom 11.1. ("Anpacken und Anfangen: Der Plan A für Österreich") enthalten dazu Ansätze. Seine Regierung wolle "in der Europäischen Union durchsetzen, dass in Branchen mit besonders hoher Arbeitslosigkeit das Instrument der Arbeitsmarktprüfung -solange eine angespannte Situation existiert- wieder eingeführt werden kann." Damit ist beim EU-Vollmitglied Österreich der Gedanke des sogenannten Inländervorrangs 2017 so in die Welt gesetzt, dass er den sektoriellen Maßnahmen der 1970er Jahre ähnelt.

Selbst wenn bei der sogenannten Visegrád-Gruppe bislang Ausländer eher unter dem Vorzeichen unerwünschter Flüchtlinge verhandelt wurden: Die Ambiguität und Auslegungsfähigkeit, was alles unter "Ausländer" zu verstehen ist, haben als gemeinsamen Nenner, was tatsächlich oder vorgeblich dem jeweiligen Land nutzen bzw. schaden würde. Dass sich das noch nicht auf die Arbeitsmärkte bezogen hat, dürfte auch damit zusammenhängen: Bislang hat in den vier Staaten der Gruppe mangels Attraktivität noch keine Ein-, sondern umgekehrt eine erhebliche Auswanderung von Arbeitskräften stattgefunden. Die Tendenz, das Nationale, Eigene als Interesse im Gegensatz zum Fremden besonders zu betonen, ist aber unübersehbar: Mit dem (vorerst) gescheiterten Versuch des ungarischen Premiers Viktor Orbán per Volksbefragung die EU bei Flüchtlingsquoten, von ihm deklariert als "Ansiedelung nichtungarischer Staatsbürger", zu delegitimieren genauso wie 2011 mit der Aufnahme des Magyarentums als ein Leitmotiv in die Verfassung.

"Zu wissen, wer zu uns kommt" setzt die Selektion bereits voraus

Die Ambiguität bei der Verwendung des Wortes "Ausländer" hat sich im Brexit in einer ganzen Bandbreite manifestiert. Im Vereinigten Königreich hatte sie einen demographischen Ausgangspunkt. Anders als in anderen Europäischen Staaten gibt es hier einen Geburtenüberschuss. Zusammen mit dem positiven Saldo der Migrationsbewegungen hat das in vergangenen Jahren zu einem Bevölkerungszuwachs von landesweit rund 0,7%/p.a. oder etwa 500.000 Personen/jährlich geführt. Besonders interessiert ist das englische Kernland rund um London mit einem doppelt so hohen Anteil. Die Gruppe mit der höchsten Zuwachsrate bilden dabei die in Polen Geborenen, die von 2001 bis 2015 ihre Präsenz im Vereinigten Königreich mehr als verzehnfacht haben.

Das wäre an sich kein Problem. Denn die im Herbst 2016 festgestellte Beschäftigungsquote von 74,5% sowie die der Arbeitslosigkeit von unter 5% zeigen: Die Zugezogenen sind nicht nur erfolgreich in die Arbeitswelt integriert worden, sondern sie haben den Wiederaufstieg der Volkswirtschaft seit der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2009 maßgeblich mitgestaltet.

Der sich selbst als konservativ bezeichnende Thinktank MigrationWatch UK hat daraus aber eines der Ausgangsmotive des Brexit gemacht. Das Vereinigte Königreich und speziell England seien bereits sehr dicht besiedelt ("doppelt so dicht wie Deutschland, fast vier Mal so viel wie Frankreich"), und sie litten unter chronischem Wohnraummangel. Bedeutsamer erscheint die Bemerkung, dass "die Nettozuwanderung aus Europa jetzt beinahe so stark ist wie die von außerhalb der EU". Das legt Verhältnis und Verständnis offen. Was etwa in Deutschland und anderen mitteleuropäischen Staaten als abzuweisende Wirtschaftsflucht offizialisiert wird, ist im Vereinigten Königreich erwünscht: Zuwanderer aus Indien, Pakistan, Bangladesch oder Kenia folgen dem Imprint des Commonwealth of Nations genauso wie gern gesehene Personen aus dem arabischen Raum.

Dabei sind es die jeweiligen insbesondere finanziellen, in ihren Ursprungsländern gleichzeitig gesellschaftlichen Eliten, die sich Lebensunterhalt und private Krankenversorgung leisten können. Die Vermutung liegt nicht völlig fern, dass hier zum Glanz des Finanzplatzes London der Gedanke an eine wieder zu belebende Glorie der Krone eine Rolle spielt. In Zeiten, da die Türkei osmanisch träumt, Ungarn sich magyarisch gibt oder die USA wieder groß werden wollen, als ob sie es nicht wären: Rule, Britannia! erscheint angesichts der Kampfansagen von Theresa May ein plausibler Interpretationsschlüssel dafür, was als "Ausländer erwünscht" sein dürfte.

Die Kakophonie in der Begründung der Ausgrenzung ist keineswegs auf die Inseln im Atlantik begrenzt. Mal nationalistisch-chuavinistisch, mal dezidiert völkisch-rassistisch, hier Sicherheits-, dort Arbeitsmarkterwägungen: "Zu wissen, wer zu uns kommt" ist die allseitig zum Satz gewordene Selbstimmunisierung einer um sich greifenden Selektion anhand von Staatsangehörigkeiten.

Stacheldrahtverhaue statt Paneuropäischem Picknick

Die Abschaffung der Schlagbäume an innereuropäischen Grenzen als Vollzug der Schengener Abkommen ist über den Rechtsrahmen hinaus ein Akt mit großer Symbolkraft gewesen. Wie Ulrike Guérot und Robert Menasse vor einem Jahr dargelegt haben ("Lust auf eine gemeinsame Welt"), ist das Europa der geschlossenen und bewachten Grenzen eine historische Anomalie, die mit dem Ersten Weltkrieg einsetzte.

Mehr als der Fall der Berliner Mauer wären unter diesem Aspekt die Durchtrennung der Signalanlagen im Juni und das darauf folgende Paneuropäische Picknick im August 1989 an der Grenze zwischen Österreich und Ungarn, die die Freiheit der Personen mit neuem Inhalt wiederbelebten: Freie Bürger in nun zahlreicheren freien Ländern mit durchlässigen Grenzen.

Geht es dagegen nach dem Willen des derzeitigen österreichischen Exekutivs, soll die erneute Bemannung innereuropäischer Wachtürme zum Dauerzustand werden, "bis die EU in der Lage" sei, "die Außengrenzen zu schützen". Innenminister Wolfgang Sobotka beruft sich dabei auf das Beispiel Deutschlands, das unter dem Druck der CSU-Führung in München ebenfalls eine zeitlich unbestimmte Verlängerung der Grenzkontrollen über Februar hinaus anstrebt. Vorbild in beiden Fällen waren die schnell von Viktor Orbán errichteten Zäune zuerst Richtung Serbien, später zu Kroatien und deren Abriegelung, schließlich die Wiederrichtung der Sperren zwischen Ungarn und Österreich.

So polyvalent "der Ausländer" als Politikum ist, verhält es sich auch mit den Grenzanlagen. Lehrreich ist das Beispiel der Abwehranlagen am Eingang des "Eurotunnels" in Calais. Gedacht als Maßnahme gegen die im sogenannten Dschungel konzentrierten Flüchtlinge, die das Vereinigte Königreich erreichen wollten, richten sie sich heute gegen alle EU-Angehörige. Wie die Vorgänge vom Sommer 1989 Strahlkraft für neu gewonnene Freiheit hatten, steht in der französischen Hafenstadt faktisch wie symbolisch der actus contrarius, deren Widerruf: Statt eines Reiseterminals eine modellhafte Maginot-Linie.

Kaum Reaktionen aus Brüssel und Straßburg

Nachdem Theresa May vergangenen Dienstag mit ihrer 12-Punkte-Erklärung mehr Einblick in Ambitionen als in konkrete Ziele gewährt hat, wäre es für die Europäische Union an der Zeit gewesen, einzuhaken. Mays Ankündigung, die Behandlung von Staatsangehörigen zum Gegenstand von bilateralen Abkommen machen zu wollen, ist nicht nur angesichts der bereits in Vollzug gesetzten Diskriminierungen eine Zumutung. Sondern sie zielt durch die avisierte Umgehung insbesondere der an sich zuständigen Kommission auf eine Spaltung der Union in der zentralen Frage der Unionsbürgerschaft.

Die Taktik, sich erst dezidiert zu äußern, wenn das Austrittgesuch des Vereinigten Königreichs offizialisiert ist, geht hier genauso fehl wie das Verhalten der Union bei der Frage der Grenzkontrollen. Ursprünglich sollten sie insgesamt wieder per 31.12. des vergangenen Jahres fallen. Jetzt dagegen heißt es aus EU-Kreisen noch bevor sich die Fachminister kommenden Donnerstag in Malta treffen, Deutschlands und Österreichs Anträge auf Verlängerung würden jedenfalls bis Mai bewilligt. Obwohl keine einzige Grenzkontrolle bislang dazu beigetragen hätte, stehen die Maßnahmen unter dem Vorzeichen der Vorbeugung gegen Terrorismus.

Die derzeitige Zusammensetzung der EU-Institutionen lässt nicht erwarten, dass zugunsten der Personenfreizügigkeit klare Signale gesetzt werden. Nach der Kommission ist auch das Europäische Parlament mittlerweile fest in konservativer bis europaskeptischer Hand. Die Wahl des langjährigen Berlusconi-Weggefährten Antonio Tajani zum neuen Parlamentspräsidenten zeigt: Der Blick auf die jeweilige nationale Klientel wird weiter in den Vordergrund rücken, gegebenenfalls auch über sektorielle Maßnahmen hinaus. Bei dieser Konstellation muss nicht mehr nach einer Road-Map des Vereinigten Königreichs zum Brexit gefragt werden, sondern umgekehrt: Wie lässt sich die Freiheit der Personen noch verteidigen?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Joseph Seidl

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