Vermeidbare Eskalation

Europa/Türkei Die Europäische Union will eine gemeinsame Linie gegen die türkische Regierung finden. Die Uneinigkeit ist diesmal eine Chance

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Mag es frontal: Recep Tayyip Erdoğan
Mag es frontal: Recep Tayyip Erdoğan

Foto: Chris McGrath/Getty Images

Türkisches Gesetz verbietet es, dass im Ausland Wahlkampf gemacht wird. Die Courtoisie des Völkerrechts gebietet es, dass die türkische Regierung sich nicht ausfällig oder sogar drohend gegenüber Verantwortlichen und Ländern äußert, die an die Einhaltung dieses Gesetzes erinnern und auch sonst keinen Wahlkampfauftritt ausländischer Regierungsmitglieder bei sich wünschen. Gegen diese Maßgaben beharrlich zu verstoßen, lässt zweifeln: Ist es die schiere Panik der türkischen Führung, das Referendum zur Verfassungsänderung zu verlieren, dass sie derart aggressiv, wider Gesetz und Vernunft handelt? Oder ist es unabhängig von dessen Ausgang ein Geschmack auf den künftigen Regierungsstil in der Türkei, wenn der vereitelte Staatsstreich so oder so nicht mehr als Vorwand für Willkür herhalten wird können?

Die Kraftmeierei, die im Gegenzug in Europa eingesetzt hat, ist derzeit nur ein Spiegelbild und hat allenfalls eines im Blick: Die Parolenhoheit.

Denn die niederländische Regierung hat am Wochenende ebenfalls vom Wahl- in den Kampfmodus geschaltet. Es erscheint geradezu ein Geschenk des Himmels für Ministerpräsident Mark Rutte, vier Tage vor der Parlamentswahl den starken Mann markiert haben zu können, um den Konkurrenten von rechts außen Geert Wilders auszustechen. So sehr sich Letzterer bemüht hat, vor allem per Social-Media noch weiteres Öl ins Feuer zu gießen: Das Heft des Handelns haben Rutte und die Seinen wenigstens zeitweise wieder auf ihrer Seite. Viele werden weniger im Demokratieverständnis als unter diesem Gesichtspunkt "der harten Hand" gespannt auf das Ergebnis am kommenden Mittwoch schauen.

Der Flurschaden aber ist immens. Auch wenn Rutte nichts anderes getan hat, als eben die Regierungsprärogative der auswärtigen Beziehungen in Anspruch zu nehmen, dürften das auf längere Sicht Nichtbeziehungen sein. Die gegenseitige verbale und tatsächliche Aufschaukelung bringt ins öffentliche Bewusstsein, wie schnell aus einem korrekten Umgang miteinander Feindseligkeiten entstehen können.

Die Bilder von Hunden, die in den Niederlanden auf türkischstämmige Demonstranten losgelassen wurden, dürften unabhängig von der propagandistischen Aufmachung nicht so schnell vergessen werden. Dasselbe gilt für die Verletzung der Hoheit eines niederländischen Konsulatsgebäudes, auf dem die türkische Flagge gehisst wurde: Hier wurden Bilder aus Teheran im November 1979 evoziert.

Auch in Deutschland gibt es die Versuchung der Eskalation. Begleitet wurde sie ein paar Tage lang von dem Hinweis auf einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts. Hiernach können sich ausländische Staatsoberhäupter oder Mitglieder ausländischer Regierungen, die "in amtlicher Eigenschaft und unter Inanspruchnahme ihrer Amtsautorität in Deutschland auftreten", nicht auf die Grundrechte der deutschen Verfassung berufen. Wenn also die Bundesregierung derartige Auftritte verbieten dürfe, so die Botschaft aus den Reihen parteiisch interpretierender Politiker , dann müsse sie das auch gefälligst tun. Und bitte laut.

Dass man nicht alles tun sollte, was erlaubt ist, ist eine Binse. Und dass an das "Danach" zu denken ist, an die Zukunft, hat nicht nur vorausschauend mit künftigen Optionen zu tun, die man sich stets offen halten sollte, sondern ist immanenter Teil politischen Denkens. Das "Danach" ist die Tatsache, dass auch künftig in Deutschland Personen leben werden, die (un)mittelbar mit der Türkei verbunden sind. Und sie sind, das lernen wir gerade auf die harte Tour, nicht einfach nur Gäste. Sie kommen mit ihren eigenen Erfahrungen, ihrem eigenen kulturellen Gepäck und vor allem: Mit ihren eigenen politischen Überzeugungen.

Daran hat unlängst Ebru Tasdemir in der taz.gazete mit "Quellen? Wer braucht die schon" erinnert. Nicht nur in der Türkei nimmt man es derzeit mit den Fakten nicht so genau. In Deutschland wird seit 2015 kolportiert, 60 Prozent aller Deutschtürken würden für die AKP stimmen. Das ist falsch. Von rund 1,4 Millionen Wahlberechtigten in Deutschland machte bei den damaligen Parlamentswahlen im November nur etwa ein Drittel von seinem Stimmrecht Gebrauch und hiervon wiederum waren es 59,7 Prozent, die für die AKP votierten, zu der Zeit noch angetreten mit Spitzenkandidat Ahmet Davutoğlu.

Gegen den Versuch, bei uns lebende türkische Mitbürger mehrheitlich in die radikale Ecke zu schieben, sprechen auch die Erkenntnisse des Sachverständigenrats Deutscher Stiftungen für Integration und Migration. Im November vorigen Jahres gelangte er bei der Frage, "Schwarz, rot, grün - welche Parteien bevorzugen Zuwanderer?" zu dem Ergebnis: "Bei den Türkeistämmigen ist weiterhin die SPD die mit Abstand beliebteste Partei (69,8 %)."

"Wider die Verbotspolitik"

In seinem Appell bei Zeit-online hat der hart geprüfte Journalist Can Dündar "Wider die Verbotspolitik!" plädiert. Deutschland habe "vor der Gesinnung der Verbote kapituliert" und "damit Erdoğan einen neuen Trumpf für seine antiwestliche Haltung beschert". "Wäre ein Auftritt Erdoğans aufgrund der Proteste seiner Gegner abgesagt worden", schreibt Dündar weiter, "wäre das für alle lehrreicher gewesen". Das Potential dazu wäre da, wie die oben genannten Zahlen es nahe legen - warum, so lautet die eigentliche Frage, wurde es bislang nicht abgerufen?

Demokratie gibt es nicht auf Befehl, und Verbote sind in ihr nur die ultima ratio. Hardliner wie ein Rutte oder jüngst ein Graf Lambsdorff Junior im EU-Parlament -beide ein Grund, warum "liberal" zum Schimpfwort geworden ist- sind mit Blick auf Wahlzettel daheim auf autoritär eingeschwenkt. Dazwischen aber wirkt noch immer die Zivilgesellschaft mit all ihren Facetten. Sie ist keine andere, weil ihre Mitglieder unterschiedlicher Herkunft sind, im Gegenteil: Mit und in ihr realisiert sich die Völkerverständigung, wenn dieses Wort nicht tote Materie bleiben soll. Das sollte gerade in der Europäischen Union bekannt sein, sie baut im Wesentlichen darauf auf.

Beides, Demokratie und Verständigung als ihre Voraussetzung müssen sich jeden Tag neu bewähren, eigentlich: Jeden Tag neu errungen werden. In der Hinsicht hat ein Frontalunterricht à la AKP vor ein paar hundert Anhängern in geschlossenen Räumen oder konsularischen Gärten allenfalls anekdotischen Wert. Oder wie es Can Dündar schreibt: Gezi sollte (auch uns Deutschen!) ein Vorbild sein - "Friedlicher Protest gegen Gewalt, Humor gegen Zorn, auf Gemeinschaft setzende Solidarität gegen polarisierende Hassrhetorik."

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Joseph Seidl

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