Zwei Wochen sanktionsfrei.de

Eine Zwischenüberlegung 5% aller Erwerbslosen sind gezwungen, mit einer Summe unter dem Existenzminimum zu überleben.

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Wer monatlich weniger als das sogenannte Existenzminimum zur Verfügung hat, das vom Gesetzgeber momentan auf 404 Euro festgelegt worden ist, kann nicht oder nur unter großer Entbehrungen überleben.

Da fünf Prozent aller Erwerbslosen gezwungen sind, mit einer Summe unter dem Existenzminimum zu überleben, will die Initiative sanktionsfrei.de dagegen halten. Einige Medien berichteten bereits.

Zur Erinnerung: Dirk Feiertag, Anwalt und einer der drei Initiatoren, war und ist erschüttert darüber, dass so wenige Erwerbslose ihre Rechte kennen, wenn ihnen das Amt die Bezüge kürzt, manchmal sogar um 100 Prozent. Die Initiative sanktionsfrei.de hat es sich deshalb zum Ziel gemacht, Hartz lV- betroffene Menschen über ihre Rechte aufzuklären, sie zu einer Klage zu ermutigen und sie durch den HartzlV-Klage-Dschungel zu begleiten. Dies soll mit gezielter Hilfe in Form von Übersetzung des Amtsdeutsch, Erstellen von Widersprüchen, Vertretung durch JuristInnen, finanzieller Unterstützung während des Prozesses geschehen.

Die beiden MitstreiterInnen von Dirk Feiertag sind Michael Bohmeyer, der im Sommer 2014 bereits ein Projekt ins Leben rief, im Rahmen dessen über Crowdfunding Geld für jeweils einjährige Grundeinkommen gesammelt wird, sowie Inge Hannemann, seit 2005 Mitarbeiterin beim Jobcenter Hamburg-Altona, die sich weigerte, bei Regelverstößen Sanktionen zu verhängen und außerdem öffentlich das gesamte System HartzlV kritisierte, weshalb sie 2013 vom Dienst freigestellt wurde, Hausverbot erhielt, heute dort sitzt, wo sie weniger Schaden im Sinne des Arbeitsministeriums anrichten kann.

Am 9. Februar sind die drei im Rahmen einer Pressekonferenz an die Öffentlichkeit gegangen. Das Projekt ist ohne finanzielle Mittel nicht zu realisieren. Eine Website muss programmiert und vor allem ausreichend gesichert/verschlüsselt werden, Anwälte müssen bezahlt werden. Sanktionierte, die sich vor Gericht wehren, sollen finanziell unterstützt werden.

Da Bohmeyer mit Crowdfunding bereits beste Erfahrungen gemacht hat, sammelt man auf die selbe Weise seit Februar ein Startkapital für sanktionsfrei.de.

Innerhalb von nur 10 Tagen kamen bereits 30.000 Euro zusammen. Mindestens 75 000 werden gebraucht. Die Sammelaktion läuft noch bis Ende März.

Besonders freuten sich die InitiatorInnen über Kleinstbeträge von solchen SpenderInnen, die eigentlich selbst nichts übrig haben, aber Hoffnung in das Projekt setzen. Das Thema bewegt. Ein Anfang ist gemacht.

Nun wird kritisiert, dass, bevor es los geht, erst mal ein hübsches Sümmchen Geld zusammengebracht werden muss. Kritisiert wird dies mehrheitlich von ZeitgenossInnen, die sich sonst (mit Recht) darüber erregen, dass immer mehr Arbeit, und zwar gerade im sozialen Bereich, unentgeltlich erledigt werden soll. Qualifizierte würden dadurch ausgebeutet werden.

Das ist heutzutage in der Tat so und nimmt immer bedrohlichere Züge an, und deshalb ist es begrüßenswert, dass sanktionsfrei.de zunächst Geld sammelt, bevor JuristInnen, ProgrammiererInnen usw. beschäftigt werden. Die drei InitiatorInnen sowie einige Ehrenamtliche, die sich z.B. um die Seiten in den sozialen Netzwerken kümmern, arbeiten ohnehin umsonst. Das sollte reichen in Sachen unbezahlte Arbeit.

Weiter wird moniert, dass es bereits in allen Städten zahlreiche Initiativen gibt, die sich an Sanktions-Betroffene wenden, um ihnen zu ihrem Recht zu verhelfen. Wozu dieses Online-Portal?

Richtig ist, dass sich bereits viele Beratungsstellen um Hartz lV-Betroffene kümmern, und natürlich kann diese Arbeit nicht hoch genug geschätzt werden.

Bedenken sollte man jedoch, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen hier nicht erreicht werden. Gerade in kleineren Städten kann Anonymität in Sachen Hartz lV- Beratung kaum garantiert werden. Viele Betroffene haben eine lange Erwerbsbiografie hinter sich, die Scham, nun auf staatliche Hilfe angewiesen zu sein, und das ganze Dorf kriegt Wind davon, ist groß, weshalb im Falle von Sanktionen vermutlich oftmals stillschweigend hinter verschlossener Tür gelitten wird.

Und schließlich wären da noch all jene, die zwar in der Großstadt leben, sich aber hier nach Studium oder guter Ausbildung zwischen Projekten, Praktika und HartzlV -Bezug hin und her hangeln müssen. Diese Leute im Alter zwischen 20 und Mitte 30 gibt es zuhauf, auch wenn das Arbeitsministerium das zu verschweigen versucht, der Bevölkerung lieber suggeriert, HartzlV Betroffene seien in der Mehrheit ungebildet, faul und wollten es sich in der ´sozialen Hängematte´ gut gehen lassen. Wie gut es einem in dieser Hängematte tatsächlich geht: siehe oben.

Diese 20 bis 35-jährigen sind keine Stammkundschaft von kirchlich, parteilich oder bürgerInneninitiativ betriebenen Beratungsstellen. Es liegt in der Natur der Sache, dass man bis Mitte 30 noch glaubt, dass alles gut wird mit der eigenen Laufbahn, auch wenn es momentan ein wenig klemmt, auch wenn es momentan dem Zeitgeist entspricht, den Kapitalismus ein bisschen in Frage zu stellen. Doch das mitleidige oder ideologische oder gar pädagogische Moment in solch einem Beratungsangebot für die VerliererInnen der Gesellschaft passt nicht in den eigenen Lebensentwurf. Das ist Muff.

Bohmeyer könnte diese Gruppe ins Widerstand-Boot holen. Er ist ein erfolgreicher `digital native´, seine sanktionsfrei-Seite ist hip und professionell. Zukünftig kann man mal eben auf der morgendlichen Netz-Tour zwischen Facebook, Twitter usw. seinen Sanktionsbescheid hochladen. Das ist zeitgemäß. Dadurch bekommt der Widerstand einen popkulturellen Anstrich. Eine neue Gruppe Mitstreiter gegen Hartz lV ist erschlossen.

Und nein, natürlich wird man das System Hartz lV durch sanktionsfrei.de nicht innerhalb kürzester Zeit stürzen, auch nicht mit Hilfe der neuen Streitkräfte, aber wie war das noch mit dem steten Tropfen...

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Juliane Beer

Schriftstellerin und Aktivistin für ein weltweites Bedingungsloses Grundeinkommen

Juliane Beer

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