Wüstling an einer Hure Brust“ lautete die Überschrift einer vorauseilenden Hommage in der Zeit Ende 2020, an den französischen Dichter Charles Baudelaire, dessen Geburtstag sich in diesem April zum 200. Mal jährt. „Wegbereiter der Moderne, Dichter der Großstadt, Wüstling und Dekadent, Opiumraucher und Bürgerschreck, der sich in der Unmoral suhlte wie ein Schwein im Dreck“, hieß es dort. Und der Artikel endete, wie er begonnen hatte: bei der „Verworfenheit“.
Leben und Dichtung Baudelaires verdienen aber einen Blickwinkel, der seine zärtliche Zuwendung zu all denjenigen mit umfasst, die in der Gesellschaft als Abschaum galten: die gebrechlichen Wesen, die Elenden, Exilierten, Ruinierten. Im Gedicht Die kleinen Greisinnen, einer Art Ballade aus seinem Gedichtband Die Blumen des Bösen, ruft der Dichter dazu auf, die alten Frauen, die sich wie „verwundete Tiere“ dahinschleppen, zu lieben, denn: „Sie sind noch Seelen.“ Seine Zärtlichkeit galt auch echten tierischen Lebewesen. In Die braven Hunde aus dem Band Pariser Spleen heißt es: „Ich besinge die Elendshunde, die einsam in den gewundenen Schluchten der riesigen Städte herumirren.“ Und vom Verschwinden handelt seine Poesie: etwa vom alten Paris, das vor seinen Augen demoliert, abgerissen und radikal umgestaltet wird, um der Moderne Platz zu machen.
Familie, Besitz, Heimat? Nein
Einen weiten Horizont, mit gleichnishaften Elementen, öffnet das Prosagedicht L’étranger. Es umschreibt die Freiheitssehnsucht eines Menschen, der, von der Gesellschaft entfremdet, im Gefüge der „Cité“ keinen Platz hat. Es ist diese soziale und politische Entfremdung in der frühkapitalistischen Gesellschaft, die in der deutschen Übersetzung den Titel Der Fremdling (statt „der Fremde“) rechtfertigt. Beide mir vorliegenden Übersetzungen – die Neuübersetzung von Simon Werle (Rowohlt 2019) und die alte von Walther Küchler aus dem Jahr 1955 – tragen diesen Titel. Das Frage-Antwort-Spiel, aus dem der Text gewebt ist, beginnt mit der Frage: „Wen liebst du am meisten, du rätselhafter Mensch, sag? Deinen Vater, deine Mutter, deine Schwester oder deinen Bruder?“ Die Antwort lautet: „Ich habe weder Vater noch Mutter, noch Schwester, noch Bruder.“ Der Angesprochene steigert seine Absage an alles und jeden sogar bis zum Hass. Familie, Freundschaft, irdisch-materieller Besitz oder Heimat sind Lebensbedingungen, über die er nicht verfügt, oder Begriffe, die ihm unverständlich sind. Gegen Ende des Gedichts eine letzte Frage: „Ach! was liebst du denn, du ungewöhnlicher Fremdling?“ Hier habe ich den beiden mir vorliegenden Übersetzungen („seltsamer“ beziehungsweise „sonderbarer Fremdling“) meine eigene vorgezogen; denn „extraordinaire“ wird vor allem für Dinge und Menschen gebraucht, die das Gewöhnliche durchbrechen, wobei die poetische Voranstellung des Adjektivs im Französischen diese Bedeutung unterstreicht. Die Antwort lautet: „Ich liebe die Wolken ... die Wolken, die vorüberziehen ... dort ... dort ... die wunderbaren Wolken!“ Der Fremdling zieht das Flüchtige, Schwebende, Macht- und Grenzenlose vor, wie es in den Wolken in Erscheinung tritt. Seltsamerweise klingt hier die alte Übersetzung leichtfüßiger, schwebender als die neue mit ihrem die Richtung fixierenden „dort drüben ... dort drüben“.
Verschiedene Interpreten haben die Auffassung vertreten, hinter der Gestalt des Fremdlings verberge sich die moderne Dichtung, ein neues ästhetisches Ideal. Eher jedoch verkörpert die Haltung des Fremdlings die Revolte des Dichters gegen die herkömmliche Gesellschaftsordnung und Wertehierachie.
Baudelaires Werk – dazu zählen kritische Schriften über Kunst und Mode sowie Übersetzungen – ist in einer Zeit sozialer und politischer Spannungen und Umbrüche entstanden. Der Aufstand der Lohnarbeiter und ihrer kleinbürgerlichen Verbündeten im Juni 1848, an dem der Dichter vorübergehend teilnahm, wurde niedergeschlagen. Die sozialen Errungenschaften, die in der revolutionären Erhebung vom Februar 1848 erkämpft worden waren, gingen „eine nach der anderen verloren“, wie Walter Benjamin in Das Paris des Second Empire bei Baudelaire schrieb. All das sowie der Ausgang der Wahlen von 1848/49, der Staatsstreich Louis Napoléons im Dezember 1851 und die Wiedereinführung des Kaiserreichs enttäuschten die Intellektuellen.
Der Brüchigkeit ausgeliefert
Unter den Schriftstellern und Schriftstellerinnen brach der „ennui“, der Überdruss, aus. Weltschmerz erfüllte auch die Seele Baudelaires. In einem Brief an seine Mutter gestand er: „Ich will es unaufhörlich merken lassen, dass ich mich in dieser Welt und bei dem, was man in ihr verehrt, fremd fühle.“ Und im „Brief an eine Freundin“ bekannte er, dass er „wenig Geschmack an der lebenden Welt“ finde und „am liebsten nur für die Toten schreiben“ würde. Er lebte am Rande der Gesellschaft, von Schulden geplagt. Er gab, wie Walter Benjamin hervorhebt, „ein Stück seines bürgerlichen Daseins nach dem anderen“ preis, sich der „Brüchigkeit seines Daseins“ ausliefernd.
Benjamin resümiert: „Wenig von dem, was zu den gegenständlichen Bedingungen geistiger Arbeit gehört, hat Baudelaire besessen: von einer Bibliothek bis zu einer Wohnung gab es nichts, worauf er im Laufe seines Daseins, das gleich unstet in wie außerhalb von Paris verlief, nicht hätte verzichten müssen.“
Doch Baudelaires Fremdling, der nicht mit beiden Füßen im Leben, geschweige denn in der Gesellschaft steht, sollte nicht so traurig imaginiert werden. Einsam mag er sein, doch nicht ohne Liebe, liebt er doch die Wolken. Manche Menschen, die das Gedicht heute lesen, werden die Liebe zu den Wolken, zu den Worten, als sinnlosen Ersatz für das „wahre Leben“ betrachten.
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