Jüdin, Paria, Parvenu

Literatur Im Erinnern zu ihrem 250. Geburtstag fehlt etwas: Rahel Varnhagens lebenslange Verbundenheit mit dem Judentum
Ausgabe 24/2021

Manches Buch erhält, Jahrzehnte nach seinem ersten Erscheinen, ein neues Dasein. So Hannah Arendts berühmte Biografie der Schriftstellerin Rahel Varnhagen. Auf Deutsch erstmals 1959 veröffentlicht, liegt das Buch nun zu Varnhagens 250. Geburtstag in einer kritisch-historischen Ausgabe vor, die Einblicke in eine von Verfolgung, Flucht und Nachkriegskonfusion gezeichnete Entstehungsgeschichte gibt.

Als Arendt 1933 aus Deutschland floh, nahm sie ihre „Berliner Fassung“ mit nach Paris, wo sie weiter daran arbeitete, bevor sie ihre Flucht fortsetzte und nach New York gelangte. Der erste Satz im Typoskript lautet recht konventionell: „Im Jahr 1771 wird Rahel Levin in Berlin geboren.“ Dagegen beginnt das auf einer überarbeiteten New Yorker Version fußende Buch von 1959 mit den Worten, die Rahel Varnhagen im März 1833 auf dem Sterbebett gesagt haben soll. Ihr Ehemann, Karl August Varnhagen, will sie „unmittelbar und genau“ notiert haben: „Welche Geschichte! – Eine aus Ägypten und Palästina Geflüchtete bin ich hier und finde Hilfe, Liebe und Pflege von Euch! (...) Mit erhabenem Entzücken denk’ ich an diesen meinen Ursprung (...). Was so lange Zeit meines Lebens mir die größte Schmach, das herbste Leid und Unglück war, eine Jüdin geboren zu sein, um keinen Preis möcht’ ich das jetzt missen.“ Das hier gekürzt wiedergegebene Bekenntnis ist – nicht anders als Rahels Briefe, Aphorismen und Tagebuchnotizen – Literatur, Deutung der Wirklichkeit. Es spannt ihren Lebensbogen zwischen zwei Pole: einerseits Unglück, bedingt durch antijüdische Diskriminierung, andererseits der entzückte Gedanke an die jüdische Herkunft – eine Spannung, die sowohl Arendts philosophischer Sicht als auch ihrer dramaturgischen Absicht entgegenkam.

Verkehrt in Verkehrtheit

Einige Jahre lang konnte die junge Rahel das Leiden an ihrer Herkunft durch Entfernung von den religiösen Traditionen und Beheimatung in der aufgeklärten Kultur Europas, durch gelingende Geselligkeit und intellektuelle Anerkennung mildern. Das war die Zeit ihres „ersten Salons“, als das Who’s who aus Kultur, Philosophie und Adel zu ihr strömte (eine heitere Lektüre bietet hier übrigens Dorothee Noltes im Eulenspiegel-Verlag erschienenes Buch Lebensbild einer Salonière). Vor allem sie selbst hielt das Ganze – die Gäste und die entferntesten Gesprächsthemen – „durch ihre Originalität, ihren Witz und ihre lebendige Ursprünglichkeit“ (Arendt) zusammen.

Das offene Klima änderte sich während der Napoleonischen Kriege: „Patriotischer“ Antisemitismus breitete sich ebenso aus wie Widerstand gegen die von liberalen Politikern angeregte rechtliche Gleichstellung der Juden. „Schicksalsschläge“ wie die Auflösung von Verlobungen ließen Rahel Varnhagens Versuch scheitern, einen sicheren Stand im Gefüge der Gesellschaft zu finden. Als Frau, Intellektuelle und Jüdin fühlte sie sich mehr und mehr ausgestoßen, entrechtet: ein „Paria“ (eine weibliche Form gibt es dafür noch nicht). 1814 gelang es ihr dann doch noch, mit 43 Jahren, den individuellen Weg der Anpassung, der sich Jüdinnen damals bot, zu beschreiten: Sie heiratete den Diplomaten und Publizisten Varnhagen, trat über in die dominante Religion. Sie hoffte auf gesellschaftliche Zugehörigkeit, erkannte jedoch bald, so Arendt, „dass ihr Aufstieg nur Schein“ war, dass „ein Paria in der wirklich guten Gesellschaft nur Parvenu“ bleibt.

Diese Erkenntnis eröffnete ihr neue Wege. Sie dachte über die Missstände der Welt nach und stellte fest, dass alle Menschen „verkehrt in Verkehrtheit hineingeboren“ sind. 1819 schrieb sie an einen ihrer Brüder: „Trottoirs, Sonne, Luft, das ist meine Gesellschaft! Orte: nicht Menschen.“ Sie begann, die „holde, heilende Natur“ zu lieben. Kaum ein Wort kommt in ihren Briefen nun so oft vor wie das Wort „Grün“ – bis hin zu: „Grün, grün! sagen die Juden.“ Um 1820 begeisterte sie sich für mystische Schriften; das Werk von Angelus Silesius bezeichnete sie als „einzig wahre Religion, da es Fragen an Gott sind“. Fragende Religiosität zog sie jeder institutionalisierten Religion vor. Arendt fasst diese Lebensphase so zusammen: Rahel hängt sich nun „an alles, was von Welt, Gesellschaft, persönlicher Geschichte unberührt bleibt“. So auch an die Kinder ihrer Nichten, insbesondere an Elise. 1830 gestand die „kinderlose“ Rahel: „Ich liebe mit neuer, nie gekannter Zärtlichkeit einen reinen Thautropfen des Himmels, ein sechsjähriges Nichten-Kind.“

Hannah Arendt bezeichnet Rahels Wunsch, „aus dem Judentum herauszukommen“, als den „zentralen Wunsch ihres Lebens“. Mir scheint, dass diese These ihren Ambitionen und Ambivalenzen nicht gerecht wird. Diese werden nirgends so ergreifend deutlich wie in einem Brief von April 1824: „Meine größte Kränkung besteht darin, dass ich in keinem Garten lebe.“ Wie überhaupt Rahel Varnhagens Briefe jene von Ahrendt behauptete „Zentralität“ und jenen Wunsch eines „Heraus aus dem Judentum“ relativieren, bezeugen sie doch konkrete Verbundenheit und Solidarität mit den jüdischen Menschen sowie zärtliche Anhänglichkeit an Narrative der jüdischen Kultur und Religion.

1815 berichtete sie ihren Brüdern von einem Besuch bei dem jüdischen Ehepaar Eskeles in Wien: „Eskeles: den ich sehr liebe (...). Ja! er amüsiert mich in gewissem Sinn hier besser als alle andere (sic) Leute; weil er ganz jüdisch geblieben ist, mit geistigen Gaben, und ein reiches Leben über ihn weggegangen ist.“ In einem Brief an eine Freundin kommentierte sie den Besuch einer Bilderausstellung im Jahre 1816 so: Welch „allerliebster Mann muß dieser Mahler (sic) gewesen sein! Eins ist da, wo die Israeliten das Manna auflesen. Nein! das muß man sehen. Diesen durstigen Morgen; diese Anzüge; wie allein die stehen und liegen, und sitzen, und an kein Publikum denken!“

Als 1819 ein „Pogrom-Sturm über ganz Preußen“ (Arendt) ging, klagte sie über die Gleichgültigkeit der Bevölkerung: „Nur in Berlin haben Prediger dagegen auf der Kanzel gesprochen.“ Einem ihrer Brüder teilte sie mit: „Ich bin gränzenlos traurig und in einer Art wie ich es noch gar nicht war. Wegen der Juden. Was soll diese Unzahl Vertriebener tun. (...). Die Gesinnung ist’s die verwerffliche gemeine, vergiftete, durch und durch faule die mich so tief kränkt, bis zum herzerkaltesten Schrek.“ Damals schrieb sie eine Art Klagelied, in dem es heißt: „Getödtet ist in mir die Möglichkeit, mir zu meinem Glück oder Vergnügen die mindeste Mühe geben zu können.“

Entwürdigende Assimilation

Von jener jüdischen Verbundenheit findet man in Arendts Biografie und in der kritisch-historischen Ausgabe wenig. Vielleicht genügte der Autorin (und der Herausgeberin) der Satz „Rahel ist Jüdin und Paria geblieben“, um herauszustellen, dass ihr nichts so fern lag wie eine Assimilation an die Feinde der Juden. Zu ihrem 250. Geburtstag wird ihre lebenslange Verbundenheit mit dem Judentum kaum erwähnt. Im Übrigen behaupten manche die vollständige Lossagung von ihren jüdischen Wurzeln, die „offensive Verneinung ihrer jüdischen Herkunft“ (siehe Wolfram Eilenberger in Feuer der Freiheit, Klett-Cotta 2020), oder sie attestieren ihr einen „sinnlosen und selbstentwürdigenden Versuch der Assimilierung an eine judenfeindliche Gesellschaft“ (Ursula März in der Zeit).

Die beiden in der Pariser Emigration geschriebenen Schluss- und Schlüsselkapitel der Lebensgeschichte (sie fehlen in der „Berliner Fassung“) kreisen um die Begriffe „Paria“ und „Parvenu“ und um die „Humanität des Paria“. Eine solche Humanität sprach Hannah Arendt Rahel Varnhagen zu, besaß diese doch die Fähigkeit, „sich für anderes als die eigene Person zu interessieren“ und die Würde zu begreifen, „die jedem innewohnt, der ein menschlich Antlitz trägt“. Rahels „Heraus“ aus dem Parvenu-Dasein, hin zu einem rebellischen Paria-Sein, verlockt Arendt zu einer Botschaft an die Welt, die uns heute pathetisch erscheinen mag: „Die Menschenwürde, die Achtung vor dem menschlichen Angesicht, die der Paria instinktartig entdeckt, ist die einzig natürliche Vorstufe für das gesamte moralische Weltgebäude der Vernunft.“

Judith Neschma Klein lebt und arbeitet als Autorin, Essayistin und Übersetzerin in Frankreich und Deutschland

Info

Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik Hannah Arendt Band 2 der kritischen Gesamtausgabe, hrsg. von Barbara Hahn (unter Mitarbeit von J. Egger u. F. Wein), Wallstein Verlag 2021, 969 S., 49 €

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