Seit er erstmals wählen durfte, hat der 28-jährige Geschichtslehrer Ofek Ravid entweder für die Arbeiter- (Awoda) oder die Meretz-Partei gestimmt, die beide in Israel zur Linken gehören. Stets habe er – so Ravid, ein Bewohner des Kibbuz Glil Yam in der Sharon-Ebene – eher aus taktischen als ideologischen Motiven heraus entschieden und etwas dafür tun wollen, dass diese existenziell bedrohten Formationen in der Knesset blieben. Am 2. März, der dritten Wahl innerhalb eines Jahres, will Ravid nun aber für die Vereinte Liste stimmen. Die Allianz aus vier vorwiegend arabischen Parteien – der arabisch-jüdischen Chadasch, dem nationaldemokratischen Bündnis Balad, der Arabischen Liste Ra‘am und der islamischen Partei für Erneuerung (Ta‘al) – gewann beim letzten Votum am 17. September 13 von insgesamt 120 Sitzen.
„Die Araber sind eine unterdrückte Minderheit in Israel, und ich möchte, dass es jemanden gibt, der sie vertritt“, findet Ravid. „Früher konnte ich mich darauf verlassen, dass Meretz diesen Part ausfüllt – das ist vorbei. Nehmen Sie nur die ambivalente Reaktion auf Trumps angeblichen Friedensplan. Die Vereinte Liste hat in diesen Fragen eine klarere Stimme.“
Omri Yavin, ein in Tel Aviv ansässiger Drehbuchautor, sieht das ähnlich und gibt den Vorzug ebenfalls dem Vier-Parteien-Bund. „Vielleicht kommt die Rettung von ihnen. In der Arbeiterpartei haben sie keinen wahren Führer mehr, nur noch Moderatoren. Ayman Odeh hingegen, der Chef der Vereinten Liste, besitzt Führungsqualitäten, ansonsten könnte er diesen Parteienblock kaum zusammenhalten. Mich beeindruckt, wie sich die Vereinte Liste dem Zusammenleben in unserer Gesellschaft verschrieben hat.“
Ravid und Yavin gehören zur wachsenden Gruppe israelischer Juden, die aus der Reihe tanzen und am 2. März zum ersten Mal in ihrem Leben für eine hauptsächlich arabische Liste stimmen wollen. Bisher reichte für die arabischen Parteien die Zahl jüdischer Wähler nur für einen einzigen Knesset-Sitz. Beim anstehenden Votum könnten sie dank linksgerichteter jüdischer Wähler bis zu zwei Sitze hinzugewinnen. „Ich glaube, wir werden eine Rekordzahl von Juden sehen, die für arabisch geführte Parteien stimmen“, ist Gayil Talshir, Dozent für Politikwissenschaft an der Hebräischen Universität Jerusalem, überzeugt.
Ein gewisser Wildwuchs
Für viele Jahre war Meretz die einzige zionistische Partei, die zu Recht behaupten konnte, in Israel sowohl Juden als auch Araber zu vertreten. So erhielten bei der Wahl am 9. April 2019 arabische Kandidaten zwei der ersten fünf Listenplätze. Was sich als nötig erwies. Hätten nicht Zehntausende von arabischen Bürgern für Meretz gestimmt, wäre die Partei unter der für einen Knesset-Einzug geltenden 3,25-Prozent-Quote geblieben. Diesmal kann sich Meretz vermutlich nicht an den „arabischen Strohhalm“ klammern. „Es gibt viele Sympathisanten der Partei, die am linken Rand von Meretz stehen und sich jetzt der Vereinten Liste zuwenden“, meint Gayil Talshir. Es störe sie nicht, dass diese Verbindung durch eine eklektische Mischung aus Kommunisten, Islamisten und säkularen Nationalisten einem gewissen Wildwuchs unterworfen sei.
Tatsächlich ist Listen-Führer Ayman Odeh zugleich Parteichef von Chadasch, einer Organisation, die aus der KP Israels hervorging – die Komponente der Vereinten Liste, die durch ihre offene Feindseligkeit gegenüber dem israelischen Staat nie in nennenswerter Zahl jüdische Wähler anzuziehen vermochte. Das habe sich zuletzt geändert, findet der Politologe Gayil Talshir, weil die Vereinte Liste nicht nur innerhalb der arabischen Community, „sondern in der Gesellschaft insgesamt zu einer Kraft wurde, die fähig ist, dem Netanjahu-Regime ein Ende zu bereiten“.
Noch bei der Wahl im September war es so, dass die Vier-Parteien-Allianz nicht genügend Sitze gewann, um Blau-Weiß als wichtigster Oppositionskraft eine Mehrheit zu verschaffen. Und deren Politiker, allen voran Oppositionsführer Benny Gantz, hätten es gewiss vermieden, die Vereinte Liste in eine Koalition aufzunehmen. Andererseits gewann das Bündnis dank einer erhöhten Stimmabgabe arabischer Wähler am 17. September 2019 genügend Knesset-Sitze, um Premier Netanjahu daran zu hindern, eine rechte Mehrheit zu erhalten. Die Tatsache, dass die Vereinte Liste dann auch noch in einem eher überraschenden Schritt Blau-Weiß-Führer Gantz als Regierungschef empfahl, konnte ihrer Reputation in den Augen vieler jüdischer Bürger nur förderlich sein.
Unter denen mehr Wähler zu gewinnen, sei relativ einfach, glaubt Dekan Issacharoff, der die hebräischsprachigen Kampagnen der Vereinten Liste koordiniert. „Wir sind die einzigen, von denen die Flagge einer arabisch-jüdischen Partnerschaft gehisst wird. Und wir haben die klarste Botschaft gegen die Besatzung in der Westbank.“ Issacharoff, zugleich persönlicher Sprecher von Ayman Odeh, bedeutet linken Wählern: „Sie können diesmal Ihrem Herzen folgen – keiner strategischen Notwendigkeit.“ Da die Arbeiterpartei und Meretz als Wahlbündnis antreten, sei das Risiko, unter dem Mindestquorum zu bleiben, praktisch verschwunden.
Aber es sind nicht nur linke jüdische Wähler, denen sich die Vereinte Liste zuwendet. Kurz vor dem Urnengang zielt eine Kampagne darauf ab, Wähler orthodoxer jüdischer Milieus zu interessieren. In den Gemeinden Bnei Brak und Beit Schemesch kann man in hebräischer Sprache gehaltene Plakatwände in Augenschein nehmen, gewidmet der gemeinsamen Beschwerde von Arabern und streng religiösen Israelis, die sich ausgegrenzt fühlen, weil sie keinen Militärdienst geleistet haben. Die Vereinte Liste trägt ihren Wahlkampf zudem in die Stadt Petach Tikwa nahe Tel Aviv, in der viele äthiopische Einwanderer jüdischen Glaubens leben, die sich wie die arabischen Israelis diskriminiert fühlen und unter dem Druck der Polizei leiden. Auf Werbetafeln ist in Amharisch, der Sprache vieler Gemeindemitglieder, zu lesen: „Ihre Stimme gegen Polizeigewalt!“ Selbst russische Migranten sollen gewonnen werden, die Israels religiöses Establishment ablehnen.
Keine Partei ist perfekt
Natürlich wäre es illusionär zu erwarten, dass derartige Aktionen Stimmen in relevanter Dimension bescheren. Hoffen kann die Vereinte Liste jedoch auf Wechselwähler wie Eli Bareket, einen langjährigen Meretz-Aktivisten, der seine einstige politische Heimat kaum wiedererkennt. „Wenn Meretz einen Schritt nach rechts macht, reagiere ich darauf durch einen nach links“, erklärt er seine absehbare Wahlentscheidung. Itamar aus Tel Aviv, der darum bittet, seinen vollständigen Namen nicht zu veröffentlichen, sieht das ähnlich. „Ich habe bisher für Meretz gestimmt, weil ich der Meinung war, dass die Rechte der arabischen Minderheit nicht allein Angelegenheit arabischer Parteien sein sollten. Nur fühle ich mich Meretz immer weniger verbunden.“ Auf die Frage, ob ihn nicht die teils extremen Positionen der Vereinten Liste beunruhigen, antwortet Itamar: „Da sie absolut keine Chance haben, Regierungspartei zu werden, stört mich das nicht wirklich. Und seien wir ehrlich – keine Partei ist perfekt.“
Dreimal in einem Jahr
Israel Weil Benjamin Netanjahu nicht gehen will, sind am 2. März erneute Wahlen fällig
Netanjahu zum Ersten
April 2019 Eigentlich hätte es erst Ende 2019 turnusgemäß Parlamentswahlen geben müssen, doch verfügt Premier Netanjahu plötzlich nur noch über eine knappe Mehrheit von 61 der 120 Knessetmandate. Der Grund: Es hat einen Waffenstillstand mit der Hamas im Gazastreifen gegeben, den Verteidigungsminister Avigdor Liebermann ablehnt, so dass seine Partei Jisra’el Beitenu die Regierungskoalition verlässt. Zugleich steht Netanjahu unter Druck, weil gegen ihn wegen vermuteter Korruption ermittelt wird. Da verheißt das Amt des Regierungschefs Immunität, womöglich über eine ganze Legislaturperiode hinweg, die man sich über eine vorzeitige Wahl – anberaumt für den 9. April 2019 – sichern kann.
Netanjahu zum Zweiten
September 2019 Beim Votum im April hat es vom Ergebnis her ein Patt zwischen der Likud-Partei Netanjahus und der Allianz Kachol Lavan (Blau-Weiß) von Ex-Generalstabschef Benny Gantz gegeben. Jeweils 35 Sitze fallen ihnen in der Knesset zu. Der Auftrag zur Regierungsbildung geht dennoch an den bisherigen Premier, der aber keine Koalition zustande bringt. Die ultraorthodoxen Parteien verweigern sich als potenzielle Partner einem Gesetz, das streng religiöse Studenten nicht länger vom Wehrdienst freistellt. Also will Netanjahu die Arbeiterpartei Awoda für eine Partnerschaft gewinnen. Nach kurzem Zögern sagt deren Chef Avi Gabbay ab. So gibt es zu Neuwahlen am 17. September 2019 keine Alternative.
Netanjahu zum Dritten
März 2020 Bei der Abstimmung im September kann Blau-Weiß mit erreichten 33 Mandaten den Likud (32) knapp schlagen, so dass – nach dem erneuten Scheitern von Netanjahu – Oppositionsführer Benny Gantz von Präsident Rivlin den Auftrag erhält, eine Regierung zu bilden. Doch muss auch er passen, so dass sich das Parlament am 11. Dezember erneut auflöst. Zugleich gerät Benjamin Netanjahu durch die Korruptionsermittlungen weiter unter Druck. Ende Dezember 2019 steht deshalb sogar sein Likud-Vorsitz in Frage, als ihn Ex-Innenminister Gideon Sa’ar herausfordert, doch entscheidet sich die Parteibasis mit 71,5 Prozent für Netanjahu, der daraufhin am 2. März 2020 erneut als Likud-Spitzenkandidat antritt.
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