Zeitgeschichte Vor 100 Jahren beginnt die Dardanellenschlacht. Die Entente will nach Konstantinopel vorstoßen und scheitert an deutsch-türkischen Waffenbrüdern
Uneinnehmbar: britische Marines vor einer osmanischen Festung
Foto: United Archives/Imago
„Für den 25. April hatte der Kommandeur der X. Division, Oberstleutnant Mustafa Kemal-Bei, einen Erkundungsritt in Aussicht genommen. Als er in früher Morgenstunde die Höhen des Kodja Djemendagh, eines ausgedehnten Gebirgsmassivs voll wilder Schluchten, Klippen und Steilhänge erreicht, wird er Zeuge der ersten Kämpfe der in der Frühe bei Kaba Tepe und bei Ari Burun landenden Engländer, Australier und Neuseeländer mit den schwachen Postierungen des Küstenschutzes.“
Kemal, später Atatürk genannt und Schöpfer der modernen Türkei, bewies in der Schlacht um die Halbinsel Gallipoli im Frühjahr 1915 seine überragenden Führungsqualitäten. Das bemerkten die deutschen Offiziere, die an der Verteidigung de
idigung der Dardanellen-Durchfahrt nach Konstantinopel und ins Schwarze Meer beteiligt waren, sogleich. Die zitierten Zeilen stammen aus einem Büchlein, das schon 1916 im Berliner Scherl Verlag erschien. Mustafa Kemal, heißt es dort, „besitzt die Führertugend des selbständigen Handelns“. Den Türken gelingt es, durch neue Kräfte ständig verstärkt, die Angreifer auf einem schmalen Küstenstreifen festzunageln.Um den geht es in den folgenden Monaten. Die Truppen des Commonwealth und der Franzosen kommen nicht vorwärts, weil es ihnen nicht gelingt, die nahen Höhenzüge zu erobern. Die Türken wiederum können die Eindringlinge nicht ins Meer zurücktreiben, weil die schweren Geschütze der englischen Flotte jeden größeren Aufmarsch jenseits der Frontlinie unterbinden. Einmal gelandet können die Mächte der Entente unbeschränkt Soldaten und Kriegsmaterial heranschaffen. Die Türken leiden empfindlich unter Munitionsmangel und können die schweren Verluste bei Offizieren und Mannschaften kaum ersetzen. Als London schließlich aufgibt und die Streitkräfte abgezogen werden, haben die Türken 55.000 Tote zu beklagen, dazu über 110.000 Verwundete. Auf englischer Seite gibt es 32.000 Tote und 78.000 Verwundete. Die Franzosen zählen 3.700 Tote und 17.400 Verwundete. Nicht nur diese Bilanz, erst recht die Kämpfe selbst erlauben es, in Gallipoli ein Vorspiel der Schlacht um Verdun ein Jahr später zu sehen. Mit welcher Hartnäckigkeit auf beiden Seiten in immer neuen Wellen Tausende Soldaten in den Tod getrieben wurden, erscheint heute unfassbar. Im Zweiten Weltkrieg hatten sich solche Operationen erledigt. Der sogenannte Bewegungskrieg machte das sture Anrennen gegen feste Plätze überflüssig.Warum war die Dardanellen-Durchfahrt 1915 so wichtig? England und Frankreich wollten im Kampf gegen die Mittelmächte – Deutschland und Österreich-Ungarn – eine direkte Verbindung zu ihrem Verbündeten Russland schaffen. Über die Ostsee ging das nicht, weil die deutsche Hochseeflotte das zu riskant sein ließ. Doch ächzte Russland unter dem Mangel an Kriegsmaterial, dachte aber nicht daran, seinen westlichen Alliierten bei der Eroberung des Zugangs zum Schwarzen Meer zu helfen. Man rechnete damit, dass bei einem Zangenangriff die Engländer zuerst in Konstantinopel sein würden. Konstantinopel aber wollten die Russen selbst haben.Die Türken wussten, dass ihr Osmanisches Reich für die Europäer – mit Ausnahme der Deutschen – längst als künftiges Kolonialgebiet vorgesehen war. Die Deutschen hingegen hatten in ihrer Nahost-Politik, deren ehrgeizigstes Projekt die Bagdad-Bahn war, das Osmanische Reich als politisch gleichrangigen Partner akzeptiert. Seit längerem schon bildeten deutsche Offiziere das türkische Militär aus, wovon bis dahin allerdings noch nicht viel zu sehen war. Engländer und Franzosen glaubten daher, mit der Eroberung der 66 Kilometer langen Halbinsel Gallipoli leichtes Spiel zu haben. Das britische Oberkommando setzte in großer Zahl Australier und Neuseeländer ein, die den Krieg bis dahin nur aus Geschichtsbüchern kannten.Aufstieg der modernen TürkeiDie Dardanellen-Durchfahrt hatten die Türken mit Minen, Sperrketten und Festungen auf Gallipoli und dem asiatischen Festland gesichert. Da war zwar vieles schwach, marode und unterbesetzt, dennoch scheiterte der britische Versuch, das Kämpfen einfach der Flotte zu überlassen und mit ihr durchzubrechen. Entsprechend hoch waren die Verluste an Schiffen. Ein Angriff mit Landungstruppen musste freilich erst noch vorbereitet werden. Das verschaffte den Verteidigern Zeit, sich in einem unwegsamen Gebiet zu verschanzen. Schließlich konnten die Angreifer von drei Seiten – Ost, Süd und West – kommen. Der Vorteil der inneren Linie war begrenzt, weil alle Mittel fehlten, Truppen rasch zu verschieben. General Liman von Sanders, der deutsche Oberbefehlshaber der 5. Türkischen Armee, der die Verteidigung oblag, musste beobachten und kalkulieren, wo der Gegner ernsthaft angreifen oder das nur zum Schein tun würde. Das gelang überraschend gut.Das englische Hauptquartier befand sich auf der griechischen Insel Lemnos. Die Engländer hatten sich das Eiland vom neutralen Griechenland „ausgeborgt“, wie sie es nannten. Die Deutschen waren nicht auf die Idee gekommen, den Belgiern zu sagen, sie wollten sich Lüttich und andere Städte für den Durchmarsch nach Frankreich nur „ausborgen“. Später borgten sich die Engländer auch noch Saloniki plus Hinterland aus, aber erst, nachdem ihre Flotte vor Athen Unheil angedroht hatte.Nach den ersten extrem, verlustreichen Kampftagen ging die Schlacht um Gallipoli in einen Stellungskrieg über, bei dem niemand vorankam. Warum die Engländer ihn nicht früher aufgaben, ist schwer verständlich. Die Deutschen witzelten schon, London wolle aus Kap Tehke und der Südspitze von Gallipoli ein kleines Gibraltar machen. Der Streit um die Fortsetzung der Kämpfe ging im Kriegskabinett in London hin und her. Die Franzosen zog es als Erste heim, sie brauchten in Frankreich ihre Truppen nötiger. Als die Engländer schließlich doch das Unternehmen beendeten, vollbrachten sie ihre beste militärische Leistung auf Gallipoli. Es gelang ihnen, die Truppen auf die Schiffe zu bringen, ohne dabei von den Türken wesentlich gestört zu werden.Die Divisionen der 5. Türkischen Armee, in der ein paar Hundert deutsche Offiziere ihre Führungsaufgaben sehr zurückhaltend wahrgenommen hatten, konnten nun an anderen Fronten eingesetzt werden, etwa an der Kaukasus-Front gegen Russland. Das führte mittelbar zu einem der schlimmsten Geschehnisse des Ersten Weltkrieges, dem Völkermord an den Armeniern durch das türkische Militär. Die Deutschen wussten davon und rührten sich nicht. Jürgen Gottschlich hat das soeben in seinem Buch Beihilfe zum Völkermord dargestellt.Gallipoli steht aber auch für den Aufstieg der modernen Türkei nach der Niederlage und dem Untergang des Osmanen-Reiches. Das ist untrennbar mit dem Namen Mustafa Kemals verbunden. In jeder türkischen Amtsstube, in jedem Klassenzimmer – und wer weiß wo alles sonst – hängt bis heute das Bild Atatürks. In den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts war er das Vorbild rechtsorientierter, auch faschistischer Parteiführer in Europa. Er hatte ein geschlagenes Land zusammengehalten, soweit das eben ging. Das wurde mit Bewunderung zur Kenntnis genommen. Atatürk verlegte die türkische Hauptstadt von Istanbul (Konstantinopel) nach Ankara. Gallipoli hatte ein neues türkisches Selbstbewusstsein entstehen lassen.Aber auch bei den Australiern und Neuseeländern hat Gallipoli trotz ihrer Niederlage Eindruck hinterlassen. Das Australian and New Zealand Army Corps (ANZAC) trug maßgeblich zum Prozess des Nation Building bei. Immer wieder kamen später Veteranen nach Gallipoli an die Strände von Sedd ul Bahr, Kap Tehke und Ari Burnu, wo Tausende der Ihren im Feuer der Maschinengewehre und der Feldartillerie oder im mörderischen Bajonettkampf ihr Leben verloren. Die Treffen mit türkischen Veteranen sind längst legendär. Gedächtnis und Erinnerung der Menschen sind rätselhaft. Gallipoli bezeugt auch das.Placeholder link-1
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