Zeitgeschichte Bei seinem Auftritt in Dresden darf Helmut Kohl weder eine Wiedervereinigung künstlich anheizen noch deutsch-national klingen, will er kein Unbehagen in der EU schüren
Die Geschichte – das wird oft übersehen – spielt gern ihre ganz eigenen ironischen Spielchen. Dass Helmut Kohl mit einer improvisierten Rede in die Geschichtsbücher eingehen würde, hätten die wenigsten Deutschen erwartet, die ihn am 19. Dezember 1989 schon sieben Jahre als Bundeskanzler kannten. Aber genau dazu kam es an diesem Tag in Dresden, als der Gast nach Gesprächen mit dem damaligen DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow vor der Ruine der Frauenkirche zu einigen Zehntausend Menschen sprach. 40 Tage nach dem Mauerfall begann am Abend des 19. Dezember die Wiedervereinigung.
Helmut Kohl war bis dahin von weiten Teilen der Bevölkerung in der alten Bundesrepublik als Kanzler eher bespöttelt als bewundert worden. Damit war insofern kaum zu r
n Bundesrepublik als Kanzler eher bespöttelt als bewundert worden. Damit war insofern kaum zu rechnen gewesen, als er sich in früheren Rollen – vor allem als Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz und reformeifriger CDU-Vorsitzender – durchaus Achtung erworben hatte. Zudem dürfte er von allen Bundeskanzlern bis heute die gründlichste Bildung bei den besten Universitätslehrern (in Heidelberg) erhalten haben. Nimmt man die Bundespräsidenten hinzu, musste man wohl nur vor Theodor Heuss gesteigerten Respekt empfinden.Aber als Redner war Kohl ein Unglück. Eine ihm wohlgesonnene Pfälzer Abgeordnete sagte einmal zu ihm, indem sie ihn mit seinem Mainzer Vorgänger verglich: Wenn Peter Altmeier (1899 – 1977, d. Red.) vom Blatt ablese, höre es sich an, als rede er frei. „Wenn du frei redest, wirkt es, als läsest du ab.“ Es war nicht nur der schwere Zungenschlag pfälzischer Prägung, der seinen Vortrag beeinträchtigte. Es war vor allem das unausgewogene Verhältnis von beachtlichem Reflexionsniveau – das in einer Rede nichts verloren hat, von dem Kohl aber nicht lassen konnte – und dem Bemühen, kraftvoll, ja durchsetzungsstark zu wirken, was bei der massigen Präsenz seines Körpers tapsig, oft auch peinlich wirkte. Wann immer Kohl bei einem seiner Auftritte in Bedrängnis geriet, sei es im Gespräch mit holländischen Schülern, sei es in der Auseinandersetzung mit seinem Rivalen Helmut Schmidt, verlor er krachend an Souveränität. Es war die schiere Verzweiflung darüber, dass er sich mit seiner bildungsgesättigten Intellektualität denen gegenüber nicht behaupten konnte, denen er sich mit Recht überlegen fühlte. Das ließ ihn wie einen tumben Tor aussehen. Das Bild kannten längst die meisten.Am 19. Dezember 1989 in Dresden war alles ganz anders. Nicht für jeden. Von seinem Intimfeind, dem früheren CDU-Generalsekretär Kurt Biedenkopf, der sich zufällig in der Menge auf dem Platz befand, ist das Urteil überliefert, Kohls Rede habe ihn und die anderen Zuhörer in seiner Umgebung kaum berührt. Wenn das stimmt, muss sich dort, wo er stand, ein Ort der Stille im ansonsten stürmischen Meer der Begeisterung befunden haben. Dieser Ort wurde leider von den Fernsehkameras nicht erfasst und von den nach Dresden gereisten Journalisten – es waren etwa tausend – nicht bemerkt. Kohls Rede wurde immer wieder von Beifall unterbrochen, und es bestätigte sich, was eben noch Anlass großer Besorgtheit gewesen war, dass es darauf ankommen könne, die Emotionen der Leute nicht noch anzuheizen.Placeholder authorbio-1Allen in der Delegation aus dem Westen war klar, dass sie von überall her mit äußerstem Misstrauen beobachtet wurden. Seit Kohl ohne die sonst üblichen Konsultationen seinen Zehn-Punkte-Plan mit dem Ziel konföderativer Strukturen mit der DDR im Bundestag verkündet hatte – nur der US-Präsident war eingeweiht –, verfolgten die europäischen Verbündeten die Entwicklung der Dinge in Deutschland mit unfrohen Gefühlen. Allein der spanische Ministerpräsident Felipe González hatte gegenüber Kohl Sympathie für das Kommende bekundet.In Paris, Rom, Den Haag, besonders in London wartete man hingegen auf Fehler. Ein falscher Akzent, ein verräterisches Zeichen im Stimmungsbild, ein winziges Indiz für ein Überschwappen der Begeisterung – schon konnte man auf jenen alten Nationalismus weisen, der den Deutschen immer noch eigen sei –, weshalb man ihnen keinen Schritt in Richtung Einheit erlauben dürfe. Auf keinen Fall. Das wusste Kohl sehr genau. Deutschland war bereits Ende der achtziger Jahre in der EU sehr mächtig . Nach einer Wiedervereinigung würde es möglicherweise übermächtig sein. Kohl hatte von Beginn an gelernt, auf Empfindlichkeiten der Europäer, besonders auch der kleinen Staaten, Rücksicht zu nehmen. Die französische Flagge muss man zweimal grüßen, war einer der Sprüche, die er von Konrad Adenauer gelernt hatte. Und auch gegenüber Margaret Thatcher gelang es ihm, freundlich Contenance zu wahren. Ohnehin mit nationalen oder gar militärischen Auftritten wenig vertraut – nach einem Großen Zapfenstreich am Brandenburger Tor klatschte er einmal unbotmäßig –, fiel es Kohl leicht, das Bild von den Deutschen zu verkörpern, das die leidgeprüften Nachbarn Deutschlands versöhnlich stimmte. Es war auch sein Bild.Jetzt in Dresden beim Vortrag seiner soeben rasch, aber sorgfältig skizzierten Rede kam ihm auch noch seine Natur zu Hilfe. So, wie er zur hämischen Freude seiner Gegner nun einmal redete, war es an diesem Abend genau richtig. Und viele von denen, die es in der Fernsehübertragung mitbekamen, registrierten es mit Zustimmung: Hier der Redner, dort das zu Begeisterungsstürmen aufgelegte Publikum, überall schwarz-rot-goldene Fahnen. Kohls Sprechen auf zwei Ebenen erwies sich in dieser Lage als Glücksfall. Immer wieder lobte er die Wende in der DDR, bewunderte die friedliche Revolution und die Gewaltlosigkeit beim Umbruch: „Dafür danke ich Ihnen allen sehr herzlich.“ Dann: „Es ist eine Demonstration für Demokratie, für Frieden, für Freiheit und für die Selbstbestimmung unseres Volkes.“ Selbstbestimmung war in diesen Wochen ein anderes Wort für das Recht des Volkes auf Wiedervereinigung. Dem allzu glatten Verständnis baute Kohl sofort vor: „Selbstbestimmung heißt für uns – auch in der Bundesrepublik –, dass wir Ihre Meinung respektieren. Wir wollen und werden niemanden bevormunden. Wir respektieren das, was Sie entscheiden für die Zukunft Ihres Landes.“ Nebenbei ein Wink an die Europäer: Entscheidend sind nicht wir, sondern die!Und so geht es weiter: Ein Satz fürs Protokoll, einer für die Herzen. Die Menschen sollen hier – in der DDR – glücklich werden. Aber die Menschen in ganz Deutschland sollen, wie sie wollen, zueinander kommen. Dazu das Wort Reisefreiheit fürs Offizielle, aber Anstrengungen, „damit wir mit möglichst viel Gemeinsamkeit in Deutschland leben können“. Dieses Tastende der Worte, fast nicht zitierfähig, vermittelte exakt den richtigen Eindruck. Schließlich: „Mein Ziel bleibt – wenn die geschichtliche Stunde es zulässt – die Einheit unserer Nation.“ Nicht „der“ Nation – „unserer“ Nation. Doch darauf: windungsreicher Hinweis auf nächstliegende Schwierigkeiten.Auch der Schluss der Rede war unspektakulär. „Gott schütze unser deutsches Vaterland.“ Wieder „unser“. Das war schon alles? Die zur Kundgebung erschienenen Dresdner standen unschlüssig herum. Erst der spontane Auftritt einer älteren Dame, deren Satz „Wir alle danken Ihnen“ von den Lautsprechern über den Platz getragen wurde, beendete die Szene. Am späteren Abend im Hotel sagte Kohl im Kreise seiner engeren Mitarbeiter: „Ich glaube, wir schaffen die Einheit. Das läuft. Ich glaube, das ist nicht mehr aufzuhalten. Die Menschen wollen das. Dieses Regime ist definitiv am Ende.“Was ist eine gute Rede? Eine Rede, die ihren Zweck erreicht. Nach Dresden wussten die Deutschen, dass Kohl die Wiedervereinigung auf dem Programm hatte. Provoziert hatte er niemanden, ermutigt alle. Nie erfuhr der Redner Kohl mehr Zustimmung von den Deutschen als an diesem Abend in Dresden.
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