Es gibt bei der CDU zwei Drehbücher für die politische Praxis. Das eine gilt der Sorge um die Macht. Das andere enthält ihre politischen Grundsätze. Das eine muss immer beachtet werden. Das andere kann immer umgeschrieben werden. Das eine trägt seit Menschengedenken den Titel: „Auf den Kanzler kommt es an“. Das andere bezieht seinen Titel – wie es sich für eine christliche Partei gehört – aus der Bibel: „Alles hat seine Zeit“. Auch die Macht kann zeitbedingt verloren gehen. Dann ist es gut, wenn man sich über das Buch mit den Grundsätzen beugen kann, um über eine Wende nachzusinnen.
Die Vorwürfe, die man seit Längerem Angela Merkel macht, sie sozialdemokratisiere ihre Partei, entsprechen in keine
n in keiner Weise dem Charakter und noch weniger der Geschichte der CDU. Die Kanzlerin sichert der CDU die Macht – bisher jedenfalls. Und solange ihr das gelingt, hat sie nichts zu befürchten, selbst dann nicht, wenn es so hart zur Sache geht wie derzeit zwischen der CSU, Teilen der CDU und dem Rest der Union in der Flüchtlingspolitik. Merkel hält sich unter gekonnter Handhabung der Möglichkeiten, die der CDU als Volkspartei gegeben sind. Man muss hinzufügen: der Volkspartei, die unter der Führung ihres ersten Bundesvorsitzenden Konrad Adenauer entstand. Und schon der hatte, zum Verdruss vieler Parteifreunde, von 1950 an radikal verändert, was er vorfand.Kümmerliche JahreDie erste Volkspartei war das katholische Zentrum der Kaiserzeit gewesen. Diese konfessionelle Partei hatte Mitglieder und Wähler aus allen Schichten des Volkes zusammengebracht, nur katholisch mussten sie sein. Wie die Sozialdemokraten hatten sie keine Chance, an die Macht zu kommen, und wie diese wurden so die Zentrumsleute zu Programmeiferern. Nach Adenauers Überzeugung trugen sie dadurch später, als ihnen Macht anvertraut wurde, zwar nicht viel, aber doch ein wenig zum Scheitern der Weimarer Republik bei.Als nach 1945 die Christen sich zur Gründung einer überkonfessionellen Partei, der CDU, entschlossen, stellten in ihr die Katholiken, also die ehemaligen Zentrumsleute, den größten Anteil. Das milderte Adenauer zum Teil mit brachialen Mitteln. Das Zentrum war zuletzt eher links gewesen, viele CDU-Leute waren es jetzt – siehe: „Ahlener Programm“. Wenn man das Bild, das die CDU vor 1949 bot, mit dem vergleicht, was Adenauer mit seinem Pragmatismus bis 1959 daraus gemacht hatte, fallen die Veränderungen der zehn Merkel-Jahre dagegen geradezu kümmerlich aus. Zwar betrieb die Regierung Adenauer eine scharf akzentuierte Sozialpolitik – Mitbestimmung, Betriebsverfassungsgesetz, Rentenreform –, aber zur Einbeziehung der Evangelischen in die CDU, zur freundlichen Image-Werbung bei den Arbeitgebern, zur Ruhigstellung der FDP waren doch erhebliche Kompromisse in der Partei notwendig geworden. Das Drehbuch der Macht war wichtiger als die Grundsätze. Besonders linke CDU-Granden wurden kaltgestellt. Man sprach von Kanzlerdemokratie.Helmut Kohls Anfänge als Landespolitiker in Rheinland-Pfalz waren kaum anders. Er begann damit, eine heilige Kuh seiner Partei zu schlachten: die Bekenntnisschule, also die Aufteilung der Kinder in evangelische und katholische Schulen. Wenn man sich vor Augen hält, mit welcher Vehemenz die CDU bei der Beratung des Grundgesetzes für das Elternrecht gekämpft hatte, bei dem – auf Druck der katholischen Kirche – auch die Bekenntnisschule eine Rolle spielte, dann bekommt man eine Vorstellung davon, was diese Reform bedeuten musste. Sie gelang ohne Aufregung. Die Zeiten waren in wenigen Jahren andere geworden. Hier bewährte sich das biblische Motto „Alles hat seine Zeit“.Schmerzhafter schien es zu werden, als Helmut Kohl 1982 die Eroberung der Macht nur durch den Verzicht auf einige Grundsätze des CDU-Widerstands gegen die sozialliberale Ostpolitik erlangen konnte. Die parlamentarischen Schlachten gegen die Ostverträge waren erbittert ausgefochten worden. Die Wunden waren kaum vernarbt. Und dann, gleichsam über Nacht, zahlte Kohl den Preis für die Macht. Anders als im Bündnis mit den Liberalen wäre das Kanzleramt nicht zu gewinnen gewesen. Aber für Kohl galt wie schon für Adenauer: Union plus FDP gleich Mehrheit. Um die zu erreichen, durfte das Buch der Grundsätze einmal beiseite gelegt werden. Es folgten 16 Jahre , in denen es auf Kohl als den Kanzler ankam. In dieser Zeit immerhin durften unter anderem Norbert Blüm und Heiner Geissler und Rita Süssmuth die Sozialpolitik der CDU lebendig halten – in der CSU war sie immer lebendig geblieben. Erst die rot-grüne Koalition Gerhard Schröders hat die notwendigen Reformen zulasten der Arbeitnehmer durchgeführt. Abschaffung der Unternehmensbesteuerung und Senkung des Spitzensteuersatzes wären bei Kohl nicht möglich gewesen.Es gehört allerdings zur ganzen historischen Wahrheit, dass diese Reformen auch in beachtlichen Teilen der CDU auf Begeisterung stießen. In der Volkspartei waren seit Adenauers Zeiten auch zahlreiche Unternehmer heimisch geworden, die jetzt ihren Weizen blühen sahen. Für die CDU war das komfortabel, denn so brauchten die Unternehmer und Spitzenverdiener die Partei nicht zu verlassen und sich woanders zu engagieren, um zu bekommen, was sie wollten. Jetzt mussten die Arbeitnehmer in der Union zugucken. Sie taten es mit in den Hosentaschen geballten Fäusten.Als dann aber die neue CDU-Vorsitzende Angela Merkel 2003 auf dem Leipziger Parteitag der CDU mit gewaltiger eigener Begeisterung eine neoliberale Grundsatzrede hielt, wie sie selbst abgebrühtesten Wallstreet-Managern Gefühle warmer Zustimmung bescheren konnte, da schien sie das Buch der Grundsätze völlig vergessen zu haben. Aber abgeschafft war es nicht in der CDU. Angela Merkel bekam – mit einiger Verspätung – die Quittung für ihre neoliberale Bekennerlust. Bei der Bundestagswahl 2005 erzielte die Union ein weit schlechteres Ergebnis, als es allgemein erwartet worden war. Die SPD zog fast gleich auf mit CDU und CSU. Angela Merkel, die Kanzlerkandidatin, wäre wohl kaum Kanzlerin geworden, wenn sie Gerhard Schröder nicht am Wahlabend so derbe attackiert hätte, dass der Union gar nichts anderes übrig blieb, als sich um sie zu scharen. Aber sozialliberale Töne hat man nie wieder aus dem Mund der lernfähigen Pastorentochter gehört. Auch Berlin ist eine Messe wert.Alle RegisterUm das alles zu verstehen, muss man die Eigentümlichkeit der Volkspartei verstehen, was nicht überall gelingt, weil viele glauben, eine Volkspartei sei nichts anderes als eine große Partei, die eben von einer Menge Volk gewählt wird. Das ist falsch. Volkspartei ist eine Partei, in der die unterschiedlichsten Interessengruppen – wirtschaftlicher, religiöser, landsmannschaftlicher Natur –, die es in einem Volk gibt, zum Zuge kommen können. Eine Volkspartei hat immer für jeden etwas. Die Partei organisiert das Abgleichen der Interessen, sucht frühzeitig nach Koalitionsmöglichkeiten der Interessenvertreter, bevor diese vor die Türen treten. Kommt es dann zur parlamentarischen Debatte, hat die CDU schon alle Varianten durchdiskutiert, mit denen die Klientelparteien aufwarten und kann alle Register der Konsenspolitik ziehen, die in Deutschland so beliebt ist. Alles ist möglich, denn: „Alles hat seine Zeit“.Nur die Macht darf darüber nicht verloren gehen. Im Augenblick ist Angela Merkel in eine Lage geraten, wo immer mehr in der Union befürchten, dass den C-Parteien bei Fortsetzung ihres Kurses die Macht verloren gehen könnte. Noch überwiegt die Einsicht, dass ohne diese Kanzlerin die Macht erst recht gefährdet wäre, denn: „Auf die Kanzlerin kommt es an.“ Das bedeutet aber auch: Sie zuallererst muss bedenken, ob und wann ihr die Macht durch den Wähler genommen werden könnte. Kohl bedachte das schlecht, als er es 1998/99 versäumte, zugunsten Wolfgang Schäubles zurückzutreten. Er wurde abgewählt und mit ihm die Union. Angela Merkel pocht derzeit auf ihre Grundsätze. Die sind richtig. Aber die Macht liegt beim Wähler.
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