Bald hat sie fertig

Kanzlerin Alle rätseln, ob Angela Merkel die Nase bei der Bundestagswahl vorne hat. Gut möglich, dass sie gar nicht weiterregieren will
Ausgabe 15/2017

Es gibt Fragen, von denen jeder weiß, dass sie nicht zu beantworten sind. Aber die Fragen sind trotzdem da. Nur ihr Umfeld kann erörtert werden. Die Frage, die wir hier vor uns haben, lautet: Will Angela Merkel Bundeskanzlerin bleiben?

Gesagt hat sie es. Aber konnte sie denn etwas anderes sagen?

Zweifel an ihrer Absicht, im Amt zu bleiben, hatte es schon gegeben, bevor sie sich dazu äußerte. Als sie es schließlich tat, wurde sogleich kritisch unter die Lupe genommen, wie sie es gesagt hatte. Es schlug wieder einmal die Stunde der Laienpsychologen, die in jeder Redaktion reichlich vertreten sind. Lag nicht etwas Bedrücktes in dem Auftritt, mit dem sie ihre Bereitschaft erklärte, sich noch einmal unter das Joch der Kanzlerschaft zu beugen? Hat sie es versäumt, eine solche Kanzlerschaft in ihrer Ankündigung mit attraktiven Vorstellungen von dem zu verbinden, was in Deutschland zu geschehen habe? Oder hat sie es nicht versäumt, sondern schlicht nicht gewusst? Oder ist sie nicht darauf gekommen, weil sie einfach nicht daran gedacht hat?

Zugleich wurde ihrer Einlassung zu diesem Thema eine gewisse Müdigkeit attestiert. Man könnte auch sagen: Lustlosigkeit. Wenn man in Erinnerung hat, wie sie einst im Besitz einer sicheren Bundesratsmehrheit und mit einer großen Mehrheit im Bundetag lostrompetete: „Und dann wird durchregiert“, der weiß nur zu genau, welche Töne jetzt vermisst werden. Vielleicht ist es richtig, auf den Überschwang, den der SPD-Kanzlerkandidat in seinen Reden produziert, nicht mit dem Vorzeigen von ähnlichem Enthusiasmus zu reagieren. Angela Merkel hat sich zuletzt in weiser Einschätzung der Konfrontation nicht auf den Wahlkampfstil von Peer Steinbrück eingelassen. Dessen Großspurigkeit begegnete sie mit Zurückhaltung. Bei Martin Schulz mag sie sich erhoffen, dass dessen mitreißende Lebendigkeit in einigen Monaten nur noch als zappelig erscheint.

Aber darauf darf sie sich nicht verlassen.

Die SPD ist zwar nicht als überaus lernwillig bekannt, aber sie ist lernfähig und sie dürfte aus dem verpfuschten Steinbrück-Wahlkampf gelernt haben. Sie wird eindringlich mit Hinweisen auf die Geschlossenheit der Partei werben. Eine solche Geschlossenheit gibt es bei den Unionsparteien heute nicht – schon seit geraumer Zeit nicht mehr. Wo früher im Erscheinungsbild von CDU und CSU die Stärken lagen, sind nun Schwächen zu beobachten. Das weiß die CDU-Vorsitzende Merkel ganz genau. Als sie bei einer Pressekonferenz im Konrad-Adenauer-Haus auf die Frage nach möglichen Nachfolgern für sie antwortete, diese Frage stelle sie sich nicht, das werde schon die Partei besorgen, gab es rundum ein herzliches Lachen. Das war nicht falsch. Aber richtig dürfte auch sein, dass sich bei anderer Gelegenheit die Kanzlerin mit derselben Auskunft ganz anders beschäftigt.

Unvergessen sollte sein, dass seit dem ominösen Jahr 2015 mit dem Zuzug von fast einer Million Flüchtlingen auch ernsthafte Leute immer wieder die Frage aufwarfen: ob Merkel Kanzlerin bleiben werde, ob sie es im Herbst noch sei, ob sie es Weihnachten noch sei. Das wurde in jeder Talkshow diskutiert, auch langatmige Zeitungsartikel erwogen es, und aus Kabinettssitzungen der Unionsfraktion drangen Kassiber über angebliche Zerwürfnisse. Das geschah in einer Weise, die man früher als Tatarenmeldungen bezeichnet hätte. Der Schönheitsfehler war halt, dass von den Berichterstattern niemand dabei war. Nach außen hin zeigte die Union zunächst Geschlossenheit. Im Dezember 2015 etwa bestätigten die Delegierten des Parteitags in Karlsruhe sie eindrucksvoll – fast mit Martin-Schulz-Ergebnis. Ein Bild freilich, das überwiegend als trügerisch empfunden wurde.

Wagner-Verehrerin

Ganz falsch war solches Empfinden wohl nicht – und auch die Wagner-Verehrerin Merkel wird etwas davon gespürt haben. Was in der CSU von der Spitze bis zur Basis gegen sie losbrach, konnte bei besonnener Betrachtung an der CDU nicht spurlos vorübergegangen sein. Gleichwohl waren Spekulationen, die Kanzlerin könne in der laufenden Legislaturperiode gestürzt werden, realitätsfremd.

Dazu muss man wissen: Wie kann in der Bundesrepublik Deutschland ein Kanzler überhaupt sein Amt verlieren? Das ist gar nicht so einfach. Für eine Partei, die das mit ihrem eigenen Mann – oder Frau – an der Spitze betreiben will, ist das mit einem großen Risiko verbunden. Eben deshalb ja blieben Konrad Adenauer und Helmut Kohl so lange an der Macht – der eine 13, der andere 16 Jahre. Bisher hat der Wähler nicht honoriert, wenn eine Partei ihren eigenen Kanzler abservierte.

Adenauer wollte trotz seines hohen Alters im Amt bleiben. Aber sein Rücktritt gehörte zu den Koalitionsvereinbarungen von Union und FDP 1961. Nicht nur deshalb ersehnte die Öffentlichkeit diesen Rücktritt nicht nur, sondern sie erwartete ihn gewiss auch.

Als 1966 ehrgeizige Drängler in der Union Adenauers Nachfolger Ludwig Erhard loswerden wollten und den zuvor überaus erfolgreichen und populären Wirtschaftsminister tatsächlich stürzten, ging das einher mit dem Auseinanderbrechen des bürgerlichen Bündnisses. Drei Jahre später verloren CDU und CSU in Bonn die Macht. Bundeskanzler Kiesinger war der Erste, der abgewählt wurde. Die Union blieb 13 Jahre in der Opposition.

Willy Brandt trat wegen der Guillaume-Affäre zurück – der DDR war es gelungen, einen Spion im Kanzleramt zu platzieren. Der Skandal verdeckte, dass wichtige Leute in der SPD Brandt schon vorher hatten loswerden wollen. So kam es zu einem reibungslosen Übergang zu Helmut Schmidt. Dennoch erzielte bei der nächsten Bundestagswahl der bundepolitische Anfänger Kohl als Kanzlerkandidat auf Anhieb über 48 Prozent der Stimmen – so viel sollte er bei keiner Wahl mehr erreichen. Auch nicht nach der Wiedervereinigung.

Helmut Schmidt wurde durch ein konstruktives Misstrauensvotum um sein Amt gebracht. Zuvor allerdings hatte ihn seine Partei, die SPD, in eine ausweglose Lage manövriert. Er inszenierte seinen Abschied selbst. Es gelang ihm aber, die FDP als Hauptschuldige erscheinen zu lassen. Genützt hat es nichts. Die SPD ging für 16 Jahre in die Opposition.

Gerhard Schröder, der dritte SPD-Kanzler, ließ sich bei vorgezogenen Bundestagswahlen abwählen. Er hatte diese selbst herbeigeführt, nachdem ein desaströses SPD-Ergebnis in Nordrhein-Westfalen es ihm notwendig erscheinen ließ, eine neues Vertrauensvotum vom Wähler zu erhalten. Er verpasste es – hervorragender Wahlkämpfer, der er war – nur knapp. Dennoch gab es Stimmen, die mit der Vermutung nicht zurückhielten, er habe das Amt nicht mehr gewollt und sei planerisch schon zu neuen Ufern mit reicheren Pfründen unterwegs gewesen. Immerhin tat er alles, solche Unterstellung als gegenstandslos erscheinen zu lassen. Aber finanziell geschadet hat der Amtsverlust ihm nicht. Und mit den Folgen der Agenda 2010 mussten sich andere herumschlagen. Ihm blieb dafür Merkels Lob.

Wenn Angela Merkel amtsmüde sein sollte und sich mit dem Gedanken herumschlüge, in den Ruhestand zu gehen, dann hat sie die Möglichkeit des Rücktritts verpasst. Die Unionsparteien waren immerhin bei manchem Gegrummel vorsichtig genug, ihr keinen Anlass dafür zu bieten. Parteigranden wie Fraktion hatten aus ihrer Geschichte gelernt. Es wäre 2015 und 2016 unwahrscheinlich gewesen, dass die SPD-Fraktion einen anderen Unionskandidaten als Frau Merkel an die Spitze der Regierung gewählt hätte. Ein Koalitionswechsel zu den Grünen hin wäre rechnerisch möglich gewesen, hätte aber bei der Kanzlerwahl krachend scheitern können. Die rot-rot-grüne Mehrheit, die es im Bundestag gibt, hätte sich zwar nicht in einer Koalition zusammengefunden, aber es hätte ja gereicht, dass ein SPD-Kanzler von der Linkspartei mitgewählt und im Weiteren geduldet worden wäre. Dass so etwas geht, war der Öffentlichkeit nicht lange vorher von den drei Parteien im NRW-Landtag vorgeführt worden. Das hatte zwar der Linkspartei dort nicht gutgetan, aber an Rhein und Ruhr war die überhaupt viel schwächer als zwischen Elbe und Oder.

Von Erdogan schikaniert

Die eigene Partei also würde sich nicht dem Vorwurf aussetzen, Merkel gestürzt zu haben und sich dadurch nach historischem Vorbild um die Macht im Bund gebracht zu haben. Wenn es also bei der Kanzlerin den Gedanken gäbe, es könnte schön sein, nicht mehr Kanzlerin zu sein, dann müsste sie an Rücktritt denken. Den hätte es in Deutschland nur zweimal mit aller Anerkennung als einen freiwilligen geben können: Bei Adenauer, nachdem der deutsch-französische Vertrag abgeschlossen war. Bei Kohl, nachdem der Euro beschlossen war. Beide traten nicht zurück, weil sie der Politik der Jüngeren misstrauten.

Angela Merkel aber hat aktuell solche Erfolge nicht zu bieten. Wäre sie im Herbst 2016 zurückgetreten, hätte man die elf Jahre ihrer Kanzlerschaft als, vom Ende her besehen, eine Serie des Misslingens betrachtet. Für die Ukraine nichts erreicht, von der Türkei gedemütigt und schikaniert, in der Europäischen Union isoliert wie keiner ihrer Vorgänger, vielleicht sogar für den Brexit verantwortlich und in den Augen vieler schuld am Elend Griechenlands. Mit dieser Bilanz durfte sich Merkel nicht aus der Geschichte verabschieden. Die Erinnerung daran, dass es in diesen elf Jahren den meisten Deutschen gut gegangen war, wäre dagegen rasch verblasst. Jede künftige Verschlechterung der Verhältnisse in Deutschland und um Deutschland herum wäre über Jahre hinaus immer noch ihr angelastet worden. Ein Rücktritt vom Kanzleramt wäre schon aufgrund der Faktenlage als Flucht aus der Verantwortung aufgefasst worden. Kein Bundeskanzler vor ihr – hätte es nicht ohne Grund geheißen – habe die Bundesrepublik in eine so desaströse außenpolitische Lage geführt wie sie. Nie sei es den Armen schlechter gegangen als zu ihrer Regierungszeit, nie den Reichen besser.

So kann Angela Merkel das Amt nicht verlassen. Wenn sie es nicht mehr will, muss sie sich abwählen lassen. Dass sie eben dazu bereit oder sogar gewillt ist, dafür gibt es Indizien. Die meisten sind nicht sehr belastbar. Als leidenschaftslos galt die Frau ohnehin, auch wenn viele sie als stimmungsbegabt in Erinnerung haben. Allerdings – mit einem Rheinländer kann sie da nicht mithalten. Eine zähe Kämpfernatur mit der Fähigkeit zum finalen Schlag gegen Konkurrenten und Gegner ist sie.

Aber es ist die einstweilen unbeantwortbare Frage, ob sie das ausspielen will. Ein starkes Indiz für den Wunsch, abgewählt zu werden, ist ihre Entscheidung, Joachim Koschnicke mit der Wahlkampfleitung der CDU zu betrauen. Der Mann war zuletzt Manager bei dem Autobauer Opel, einem Unternehmen, das soeben verkauft worden ist. Zuvor war er in der CDU tätig, zu einer Zeit, als Merkel so neoliberal unterwegs war, dass es sie beinahe den Wahlsieg 2005 gekostet hätte. 2010 wurde er als Wahlkampfhelfer von Berlin nach Düsseldorf entsandt . Die CDU verlor Wahl und Regierungsmacht. Dann ging Koschnicke in die freie Wirtschaft, zuletzt war er „Vice-President Public Policy“, ein Lobbyist.

Dass Merkel nach so langer Kanzlerschaft und noch längerer Zeit als Vorsitzende aus den Reihen ihrer CDU keinen mit der Arbeit der letzten Jahre vertrauten Mann – keine Frau – für den Wahlkampf benennen kann, sagt einiges aus über das Engagement und die Energie, mit der sie die Partei geführt hat. Oder sollten sich die geeigneten Leute ihr verweigert haben? Es könnte auch sein, dass sie sich von Koschnicke das erhofft, was der 2010 in Nordrhein-Westfalen, wo im Mai wieder gewählt wird, hinterlassen hat: die Niederlage.

Die Gelegenheit, das Kanzleramt nach demokratischem Brauch wie Helmut Kohl und Gerhard Schröder mit erhobenem Haupt verlassen zu können. Und erst wird dann ja nach solchem Ablauf gelobt. So könnte es sein. Und Fragen dazu sind absurd. Denn es könnte auch nicht so sein.

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