Der große Provokator

Daten 2017 jährt sich die Bekanntgabe von Martin Luthers 95 Thesen zum 500. Mal. Jetzt liegen dazu die sieben wichtigsten Bücher vor
Ausgabe 48/2016

Nach 500 Jahren Luther: Gibt es da noch etwas Neues zu wissen? Nun, das hängt davon ab, was man schon weiß. Auffallend ist immerhin die Beachtung der Tatsache, dass der große Reformator seine Standpunkte von Provokation zu Provokation weiterentwickelte. Das heißt: Luther wurde provoziert. Für sein umstürzendes Werk besaß er weder einen Plan B noch einen Plan A. Thomas Kaufmann, Professor für Kirchengeschichte in Göttingen, zeichnet in seiner Geschichte der Reformation in Deutschland den Weg von Disputation zu Disputation, von Leipzig bis Worms und darüber hinaus, theologisch am genauesten nach, es sind hier die Konstellationen und Konfrontationen, die den Gang der Ereignisse bestimmen.

In Leipzig war es der Ingolstädter Johannes Eck, der ihn im Wortgefecht dazu brachte, in die Nähe des böhmischen Reformators Jan Hus (in Konstanz verbrannt) zu rücken. Damit brachte Luther den Herzog Georg von Sachsen gegen sich auf. Der hatte Gründe, die Böhmen zu hassen, und so verabscheute er jetzt auch Luther. Das traf aber weniger Luther als vielmehr die Leipziger Drucker und Verleger. Die durften jetzt nichts mehr von Luther und seinen Glaubensgenossen herausbringen. Für nahezu 20 Jahre versiegte dort das Gewerbe.

Der erste Shitstorm

Dagegen blühte an vielen Orten in Deutschland die immer noch neue Technik auf. Was von Luther kam, verkaufte sich glänzend. In Deutschland erschienen bald pro Jahr doppelt so viele Bücher wie in Frankreich und Italien zusammen. Andrew Pettegree, Professor von St. Andrews, hat unter dem Titel Die Marke Luther ein pralles Kapitel Buchhandelsgeschichte geschrieben. Das meiste, was gedruckt wurde, kam aus Luthers Feder. Er beschäftigte bisweilen vier Druckereien zugleich. Er nahm kein Geld für seine Elaborate. Er wollte nicht, dass es hieße, er mache Gottes Wort zu schnödem Mammon. So lebte er zunächst arm als Augustinermönch und Professor in Wittenberg. Erst als er die entlaufene Nonne Katharina von Bora heiratete und diese ihm das Haus, ein Kloster, besorgte, er zahlende Studenten aufnahm und Bier braute, konnte er in behaglichem Wohlstand leben.

Über all dies und einiges mehr unterrichtet in bester englischer Erzählweise Lyndal Roper mit Der Mensch Martin Luther. Die Professorin aus Oxford ist es, die auch am genauesten über das schreibt, was die anderen Autoren eher mit spitzen Fingern anfassen: das Thema Luther und die Juden. Dieser grundgelehrte Mann war ein rabiater Antisemit. Das Wort gab es damals noch nicht, und deshalb spricht man von Antijudaismus, ein Wort, dass sich in Deutschland so richtig erst seit 1945 eingebürgert hat, als es darum ging, eine hässliche Sache von einer etwas weniger hässlichen (nicht rassistischen) Seite her anzugehen. Bei Luther war sie überaus hässlich, ganz gleich, was für ein Wort dafür gebraucht wird, und Lyndal Roper erspart dem frommen Leser nichts.

Man kann hier – wie auch bei dem ebenso üblen Verhalten Luthers gegenüber den Bauern im Bauernkrieg – darauf verweisen, dass der Kämpfer gegen den Papst ein Meister des deutschen Grobianismus war, was auch zum Erfolg seiner Schriften beigetragen haben wird. Der Papst in Rom und seine hochgebildeten Berater nahmen die Lage in Deutschland lange Zeit nicht ernst. Volker Reinhardt, Professor in Fribourg, hat in seinem Buch Luther, der Ketzer: Rom und die Reformation diese Erklärung plausibel gemacht, und er braucht dafür gar nicht übermäßig auf den Grobianismus des Mönchs einzugehen, dessen Erfurter Freunde mit den Dunkelmännerbriefen gegen die Kölner Dominikaner den ersten Shitstorm der Geschichte auslösten. Die römischen Kardinäle mussten Deutsches nicht lesen, um es zu verachten.

Die Arroganz der Italiener in jener Zeit war so groß, dass sie einfach nicht zur Kenntnis nahmen, was nördlich der Alpen gelehrt und geschrieben wurde. Als Kardinal Cajetan nach Augsburg kam, um dort auf Luther zu treffen, dachte der Wittenberger, er werde dort mit dem Abgesandten des Papsts diskutieren können. Der donnerte dem Mönch mehrfach ein „Widerrufe, widerrufe“ entgegen. Das tat Luther nun nicht, und es gelang ihm, aus der Stadt heimlich zu entweichen. Auf Cajetan mag Luther gewirkt haben wie heute Donald Trump auf die Europäer. Dass Luther hier und ebenso später in Worms einem schlimmen Schicksal entging, verdankte er vor allem seinem Landesherrn Friedrich dem Weisen. Dieser hatte bei der Teilung Sachsens das weitaus kleinere Stück erhalten, war dafür aber mit der Kurfürstenwürde entschädigt worden.

Beides war für Friedrichs Haltung von Bedeutung. Nicht dass der sofort von den Ideen der Reformation begeistert gewesen wäre. Im Gegenteil, er war der größte Reliquiensammler weit und breit. Aber er wusste – wie alle Landesfürsten damals –, wie wichtig eine Universität zur Heranziehung von Geistlichen und Verwaltungsbeamten war. Dafür hatte Friedrich die Universität in Wittenberg gegründet.

Als Luther zum Kaiser nach Worms – dort hielt dieser einen Reichstag ab – geladen wurde, unternahm er die Reise trotz Warnungen und wurde durch halb Deutschland geleitet und schließlich am Rhein empfangen wie ein Volksheld. Das meldete Kardinal Alexander besorgt nach Rom, aber es wurde kaum beachtet. Luthers Auftreten war auch in Gegenwart des Kaisers provozierend, aber der junge Karl V., der kein Wort verstand, ließ es zu, weil es ihm geraten schien, die deutschen Fürsten nicht zu verärgern. So entkam Luther auch in Worms. Dieses Mal aber unter viel abenteuerlichen Umständen. Man entführte ihn scheinbar und verbrachte ihn auf die Wartburg, wo er sich fern aller Kollegen und Freunde nicht wohlfühlte und daran ging, die Bibel zu übersetzen. Das ist das Bekannteste.

Die größte Bildungsreform

Die ganzen Episoden, der Auftritt in Worms, könnten ein Leckerbissen sein für Autoren, die es lieben, spannend zu erzählen. So wie man das von Willi Winkler kennt. Aber der tut das für einmal nicht. Was er in seinem dickleibigen Buch Luther – Ein deutscher Rebell vorlegt, ist wie mit einem großen Rechen auf einer Mehrzweckwiese zusammengeharkt und kaum sortiert in einen Korb geworfen. Stimmung bringt er durch flotte Wendung in den Text. So bei Gelegenheit mit Aristoteles: „Für Luther ist es ein Spaß, den Referenzphilosophen der Scholastiker in die Grütze zu hauen.“ Den Stil goutiert man vielleicht in einer Glosse, aber kaum über 500 Seiten hinweg.

Ein anderer journalistischer Autor, Joachim Köhler, arbeitet in seinem Buch Luther! Biografie eines Befreiten mit dezenterer Flapsigkeit, aber mit streng kirchenorientierter Tendenz. Er zieht es vor, für richtig zu halten, was die protestantische Tradition seit langem für richtig hält. Luthers Antijudaismus bringt er so unbedeutend wie möglich an die Leser. Grob vereinfacht heißt es bei ihm: Luther habe doch nur die Juden des Alten Testaments im Blick gehabt. Sein Zorn gelte ihnen. Köhler und Winkler hätte besser bei Lyndal Roper nachschlagen sollen. Aber deren Buch gab es noch nicht, als sie schrieben. Vielleicht hätten sie nachschlagen sollen, wo die Professorin in Oxford herumblätterte.

Luther, den Katholiken, präsentiert der Tübinger Kirchenhistoriker Volker Leppin in seiner Studie über Luthers mystische Wurzeln. Leppin verweist auf Meister Eckhart und nachdrücklich auf Johannes Tauler. Den las der Student Luther schon in Erfurt und stieß auf folgende Stelle: Der Sünder solle nur heftig Reue empfinden. Wenn er dann zum Beichtvater laufe und alle Sünden vergessen habe, sei das nicht zu seinem Schaden. Luther notierte am Rand: „Merke dir das.“ Und als er weiterliest, man müsse nicht gleich zum Beichtvater laufen, notiert er: „ein überaus nützlicher Ratschlag“.

Von solchen Gedankenblitzen ist es nicht weit zur Überzeugung, dass die Kirche als Vermittlerin zwischen Gott und dem sündigen Menschen überflüssig sei. Und diese Überzeugung drängt sich geradezu auf, wenn die Vermittlerin auch noch einen Vermittler einschaltet, der dafür gutes Geld nimmt. Das brachte Luther den geschäftstüchtigen Johann Tetzel und seinen Ablasshandel ins Visier.

Tetzel durfte diesen Handel gar nicht im Land Friedrichs des Weisen betreiben. Dem Kurfürsten war es schade um das Geld seiner Untertanen, von dem viel nach Rom zum Bau des Petersdoms ging, wenn auch etliches bei deutschen Fürsten hängen blieb. Doch 30 Kilometer von der Landesgrenze entfernt durfte Tetzel predigen und Ablässe verkaufen. Weil viele sächsische Angsthaber dorthin strömten und ihre Taler in den Kasten springen ließen, damit die Seelen ihrer Angehörigen rasch aus dem Fegefeuer sprängen, trat der Reformator gegen diese Unsitte auf, die indes auch Johannes Eck im katholischen Ingolstadt verachtete.

Kann man sagen, was in den vorgestellten Biografien fehlt? Schwerlich. Unterbelichtet ist gewiss das nationale Motiv, das zum Gelingen der Reformation als Umbruch in der europäischen Geschichte beitrug. Dieses Motiv ist allerdings im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu kräftig betont worden, daher wohl die Zurückhaltung. Wenig Beachtung findet die Tatsache, dass die Reformation nach der Renaissance und mithilfe des Buchdrucks die größte Bildungsreform seit der Zeit Karls des Großen darstellt.

Das hängt mit dem Namen Philipp Melanchthons zusammen, Luthers treuester Freund und Mitarbeiter in Wittenberg, seit er dort mit 21 Jahren Professor für Griechisch wurde. Melanchthon kommt ausführlich bei allen Autoren vor, aber was Wittenbergs Ausstrahlung für die deutschen Universitäten – zunächst östlich der Elbe – bedeutete, gehört zur Geschichte der Reformation als eine ihrer wichtigsten Folgen. Dass diese Bildungsreform in vielem eine Studentenbewegung war, dann eine Sache der jungen Leute, zunächst in Wittenberg, dann nach und nach überall: ein großes Thema. Wenn wir in Shakespeares Drama lesen, dass Hamlet in Wittenberg studiert hat, und dort, wie man glauben darf, eine glückliche Zeit verlebt hat, dann wird das plausibel, wenn man weiß, in wie großer Zahl junge Menschen am Anfang des 16. Jahrhunderts in Wittenberg studierten. Sie kamen aus aller Herren Länder und gingen dorthin zurück. Um etwas zu verändern.

Info

Geschichte der Reformation in Deutschland Thomas Kaufmann Suhrkamp 2016, 1038 S., 28 €

Die Marke Luther Andrew Pettegree Ulrike Bischoff (Übers.), Insel 2016, 407 S., 26 €

Der Mensch Martin Luther Lyndal Roper Holger Fock, Sabine Müller (Übers.), S. Fischer 2016, 736 S., 28 €

Luther, der Ketzer: Rom und die Reformation Volker Reinhardt C. H. Beck 2016, 352 S., 24,95 €

Luther – Ein deutscher Rebell Willi Winkler Rowohlt Berlin 2016, 640 S., 29,95 €

Luther! Biographie eines Befreiten Joachim Köhler Evangelische Verlagsanstalt 2016, 408 S., 22,90 €

Die fremde Reformation: Luthers mystische Wurzeln Volker Leppin C. H. Beck 2016, 247 S., 21,95 €

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