Gewählt hat ihn keiner

Demokratie Carsten Sieling regiert in Bremen als Bürgermeister, ohne gewählt worden zu sein. Da braucht man sich nicht zu wundern, dass die Menschen nicht mehr an die Urne gehen
Ausgabe 30/2015

Pünktlich zum Dienstantritt hat der neue Bremer Bürgermeister – genauer: Präsident des Senats der Freien Hansestadt – Carsten Sieling Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer wegen dessen Äußerungen zur Asylpolitik getadelt. Das war zweifellos richtig. Aber dafür ist er nicht gewählt worden. Allerdings: Ist er überhaupt von den Bremern gewählt worden?

Das wohl eher nicht. Bei der Wahl am 10. Mai gehörte Sieling nicht zu denen, die als Kandidat aufgestellt worden waren. Die Wähler konnten damals also nicht darüber entscheiden, ob sie Sieling in einem Amt haben wollten. Die Partei, die am Wahltag herbe Verluste hinnehmen musste – weshalb Bürgermeister Jens Böhrnsen zurücktrat –, hat Sieling Anfang Juni auf einem Landesparteitag der Stadt einfach oktroyiert. Sie hält das für demokratisch, denn sie hat dies mit immerhin 97 Prozent der Stimmen ihrer Parteitagsdelegierten getan. Wie groß der Anteil der Bremer ist, die sich von diesen Parteitagsdelegierten repräsentiert fühlen, das ist eine Frage, die schon kurz nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses vom 10. Mai vergessen wurde.

Wenn sich die SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi immer mal wieder den Kopf darüber zerbricht, warum so viele Leute keine Lust mehr haben, am Wahltag zu den Urnen zu eilen, dann braucht sie nur diesem Vorgang einige Aufmerksamkeit zu widmen. Es wäre nicht verwunderlich, wenn viele Bremer meinten, Wahlurnen hießen so, weil darin ihre Stimmen verschwinden wie die Asche eines ehedem geliebten Toten in der Urne des Bestattungsunternehmens. Kein Mensch muss so etwas alle Jahre wieder haben. Und es wird auch nicht dadurch besser, dass Fahimi die Urnen am liebsten für eine Woche in Supermärkten aufstellen will.

Bremen, eine Kommune, die zu den größeren, aber nicht zu den größten in Deutschland gehört, hat nun einen Bürgermeister, von dem die Bürger vor einigen Monaten und auch im Wahlkampf überhaupt noch nicht wussten, dass er ihr Bürgermeister werden könnte. Die so oft inbrünstig beschworene Bürgernähe der Politik sieht anders aus.

In seinem immer noch lesenswerten Roman Bauern, Bonzen Bomben – von Kurt Tucholsky hymnisch gepriesen – schildert Hans Fallada einen Bürgermeister, der von seiner Partei aus dem Ruhrgebiet nach Schleswig-Holstein beordert wurde. So schlimm ist die Geschichte mit Sieling nicht. Er stammt aus Nienburg (Weser) und begann seinen Berufsweg in Hannover. Das ist alles nicht weit weg von Bremen. Von 1995 bis 2009 war er Abgeordneter der Bremischen Bürgerschaft, dort von 2005 bis 2009 Vorsitzender der SPD-Fraktion. Von 2004 bis 2006 war er Landeschef der SPD in Bremen gewesen. Als er 2009 in den Deutschen Bundestag einzog, durfte man von einem Karriereknick tuscheln. Bremen war Vergangenheit. In Berlin etablierte sich Sieling sogleich als Mann des linken Flügels. 2014 wurde er Sprecher der Parlamentarischen Linken.

Da wird die Sache interessant für Prognosen. Seit Jahrzehnten beklagt die SPD im Bundestag bei der Bildungspolitik, für die der Bundestag nicht zuständig ist, die geringen Bildungschancen von Kindern aus Familien an der Armutsgrenze. Diese Klage führen Sozialdemokraten zu Recht mit Erbitterung und Empörung. Seit Jahrzehnten ist Bremen im bundesweiten Ranking der Bildungschancen das Schlusslicht. In der Hansestadt regiert die SPD seit 70 Jahren. Einer von Sielings Vorgängern, Henning Scherf, galt ebenfalls als prononciert links. Er änderte nichts daran. Man kann Wetten darauf abschließen: Auch Carsten Sieling wird so verfahren. In fünf Jahren wird alles so sein wie heute. Merke den weisen alten Sponti-Spruch: Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie schon längst verboten.

Der Autor und Journalist Jürgen Busche schreibt in seiner Kolumne Unter der Woche regelmäßig über Politik und Gesellschaft

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