Vielen gilt der Datterich von Ernst Elias Niebergall, einem Landsmann und Zeitgenossen Georg Büchners, als das beste deutsche Lustspiel. Das hat damit zu tun, dass es dort (im Gegensatz zu Lessing oder Kleist) viel zu lachen gibt.
Der Datterich ist ein Tunichtgut oder, wie es im Darmstädterischen, der Sprache des Niebergall-Stücks heißt, ein „Siwwesortelump“, ein Siebensortenlump. Er hält große Reden und nie sein Wort. Der Datterich nutzt die Leute aus, wo er kann, er sucht sich seine Opfer und weidet sich an deren Hilflosigkeit. Dabei verfügt er durchaus über Rudimente höherer Bildung, was dem Publikum erlaubt, sich über verballhornte Zitate und slapstickartige Dialoge zu amüsieren. Datterich: „Kenne-Se de Faust?“ Sein aktuelles Opfer, der Drehergeselle Schmidt: „Von der Ludwigsheh?“ Datterich: „Nein, von Geethe.“
Datterich, der selbstverständlich nie seine Schulden bezahlt, treibt es schließlich so weit, dass er die ganze Stadt gegen sich aufbringt. In die Ecke getrieben, verabschiedet er sich am Ende mit einer kräftigen Rundumbeleidigung. Die Zurückgebliebenen vereinbaren erleichtert die Hochzeit der jungen Leute und freuen sich auf das Hochzeitsfest. Da sagt Fritz Knippelius, ein ehemaliger Student, der sich aber längst als Metzgermeister in Darmstadt niedergelassen hat: „Schadd, daß ahns beim Hochzeitsschmaus fehle muß.“ Der Brautvater und exzessive Zeitungsleser Dummbach: „Ich wißt net wer?“ Knippelius: „Der Datterich.“ (Der Vorhang fällt.) Schadd - denn fortan wird es wieder langweilig in Darmstadt.
Der Datterich wurde und wird im Rhein-Main-Gebiet immer wieder gespielt, in Gemeindehäusern und in Staatstheatern. Einer der beeindruckten Zuschauer 50 Jahre nach Niebergalls Tod war vermutlich der junge Ire John Millington Synge, der damals für längere Zeit in Koblenz lebte, um sein Geigenspiel zu vervollkommnen. Er besuchte mit Begeisterung viele Theateraufführungen in der Umgebung und wird den Datterich kaum ausgelassen haben. Zwar dürfte ihm die darmstädtische Mundart fremd geblieben sein, aber die eine oder andere Tochter seiner Pensionswirtin, die ihn bei den Exkursionen begleitete, wird ihm alles übersetzt und erklärt haben.
Synge wurde später der beste Dramatiker Irlands – behaupte ich trotz Wilde und Shaw – und sein berühmtestes Stück ist The Playboy of the Western World, ein Titel, der im Deutschen kaum adäquat wiederzugeben ist. Heinrich und Annemarie Böll übersetzten: Ein wahrer Held, Peter Hacks schrieb für Western World Abendland, was völlig daneben ist. Western World bedeutet für die Iren: fern westlich von Dublin, Land der Ahnungslosen.
Hier taucht nachts in einer Kneipe ein schüchterner junger Mann, Christy Mahon, auf, der behauptet, seinen Vater erschlagen zu haben. Wegen dieser Tat genießt er sofort höchstes Ansehen. Damit lebt er auf, wird großmäulig, anmaßend, erfolgreich. Da erscheint plötzlich sein Vater, der gar nicht tot war. Der lacht seinen Sohn kräftig aus. Dieser schlägt den Vater abermals nieder, der wiederum wie tot daliegt. Jetzt wollen die Dorfbewohner Christy packen und der Gendarmerie übergeben, ein für das Irland jener Tage ungeheuerlicher Vorgang. Die Wirtstochter Pegeen Mike, vordem beinahe schon Braut Christys, sagt: „Jetzt haben wir den gewaltigen Abgrund gesehen, der zwischen einer tollen Geschichte und einer blutigen Tat besteht.“
Aber der Vater war wieder nicht tot. Beide Mahons verabschieden sich lachend von den Leuten. Pegeen Mike aber bricht in heftige Klagen aus: „Ich habe ihn verloren, den letzten Held der westlichen Welt.“ Es wird wieder langweilig in ihrem Leben sein.
Zwei ganz große Stücke des europäischen Theaters. Das auch in echt immer wieder gegeben wird.
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