Die drei sozialdemokratischen Kanzler der Bundesrepublik Deutschland haben am Ende ihrer durchaus erfolgreichen Regierungszeit ihr Amt verloren, weil ihre Partei sie nicht mehr wollte. Die Anlässe waren verschieden, aber die Ursache war dieselbe. Die beiden ersten SPD-Kanzler, Willy Brandt und Helmut Schmidt, mussten erleben, dass ihnen ein undeutliches Maß an Mitschuld am Amtsverlust ihres Vorgängers beziehungsweise Nachfolgers gegeben wurde. Über den Rücktritt Brandts infolge der Guillaume-Affäre hat der englische Dramatiker Michael Frayn ein Stück geschrieben, Democracy, in dem die letzten parteiinternen Gespräche vor dem Sturz gezeigt werden. Alle Genossen beschwören, da der Rücktritt beschlossene Sache zu sein scheint, den Friedensnobelpreisträger, es nicht zu tun. Am heftigsten Helmut Schmidt. Dann sagt Brandt in seiner schleppenden Art: „Ja, ich könnte es mir doch noch einmal überlegen“, und Schmidt fällt vor Schrecken die Kinnlade herunter.
Da war der Dramatiker, wie es manchmal vorkommt, näher an der Wirklichkeit als etliche Historiker. Wie es in der Beziehung der beiden SPD-Politiker zueinander aussah, wird nun zu einem guten Teil erkennbar aus der Publikation ihres Briefwechsels in den Jahren 1958 bis 1992. Der Herausgeber Meik Woyke hat das Buch unter den Titel Partner und Rivalen gestellt. Das ist zur Hälfte richtig. Partner waren sie bei der Gestaltung der westdeutschen Politik in den Jahren ihrer jeweiligen Kanzlerschaft schon von Amts wegen. Rivalen waren sie kaum.
Wo das Herz schlägt
Als Brandt Regierungschef war, brauchte er seinen Minister nicht zu fürchten. Er erreichte es bei den Bundestagswahlen nach Ende seiner ersten Amtszeit, dass die SPD zum ersten Mal stärkste Fraktion im Deutschen Bundestag wurde. Als Schmidt Kanzler war, hatte sich Brandt als Vorsitzender der Sozialistischen Internationale neue Ziele gesetzt. Zwar war er SPD-Vorsitzender geblieben, aber hier konnte es keine Rivalität geben, weil der Macher im Kanzleramt an der Führung einer Partei uninteressiert war.
Die 713 Briefe, die der Band versammelt, haben nach Stil und Inhalt äußerst disziplinierte Männer zu Autoren. Das kann auch nicht anders sein. Beide hatten, als sie es miteinander zu tun bekamen, schwierigste Lebensjahre hinter sich – Schmidt als Offizier im Krieg, Brandt als Widerstandskämpfer im Exil. Beide hatten Jahre des Aufstiegs in der Nachkriegs-SPD hinter sich: der eine in Hamburg, der andere in Berlin. Beide hatten über Jahre hinweg erlebt, wie ihre Partei mit ihrer Politik vergeblich gegen Adenauers Union ankämpfte. Beide waren längst keine jungen Hüpfer mehr, waren es wohl, der Umstände halber, nie gewesen. Entsprechend gemessen ist ihr Briefstil.
Aufregend wird das dicke Buch in den Fußnoten. Hier hat der Herausgeber mit großem Fleiß fast alles zusammengetragen, was auch noch die unscheinbarste Stelle in den Briefen als brisant erkennen lässt. Woyke ist mit seiner Ausführlichkeit ein zuverlässiger Historiker, nur in seinen Adjektiven zeigt er, wo sein Herz schlägt. Zu Anfang ihrer Bekanntschaft, so sagte Schmidt oft, habe er Brandt verehrt, fast geliebt. Auch lassen manche Briefe vermuten, dass es der Hamburger ist, der um Brandts Freundschaft wirbt. Allerdings lässt der Umstand, dass der immerhin schon 40-Jährige den Vornamen (wir sind bei der SPD) des Briefpartners mal mit i am Ende, mal mit y schreibt, doch am Ausmaß der Verehrung zweifeln. Wahrscheinlicher ist, dass Schmidt mit vorzüglicher politischer Witterung früh den Mann mit Zukunft erkannte und bei ihm im Zug mitfahren wollte.
Zum ersten Bruch, der dann auch nie ganz überwunden werden sollte, kam es, als die erste Große Koalition (1966 – 69) die Notstandsgesetze mit einer Grundgesetzänderung durchs Parlament brachte. Das stieß auf erheblichen Widerstand seitens eines Teils der ohnehin in Rebellion befindlichen Studentenschaft, zahlreicher Gewerkschaftler und prominenter Publizisten. Schmidt, der als SPD-Fraktionsvorsitzender dabei mit Rainer Barzel von der CDU/CSU exzellent zusammenarbeitete, vermerkte mit Groll, dass er von seinem Parteivorsitzenden nicht nur kaum Unterstützung erfuhr, sondern dass dieser im Grunde mit den Gegnern der Verfassungsänderung sympathisierte. Brandt vernahm die Töne der jungen Leute in der eigenen Familie und wusste, dass bei den Gewerkschaftlern keineswegs Radikalinskis ihre Skepsis bekundeten. Zudem wird ihm die deftige Kameradschaft der beiden ehemaligen Oberleutnants Hitlers auf die Nerven gegangen sein. Das alles war nicht zu ändern.
Was freilich bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal sichtbar wird und mehr als alles andere die Distanz erkennen lässt, die im Politischen zwischen beiden bestand – und den ganzen Briefwechsel prägt –, ist die völlig unterschiedliche Auffassung von dem, was Führungskraft ist.
Ganz und gar Manager
Schmidt ist, wie es inzwischen zum Klischee verkommen, aber keineswegs falsch ist, ganz und gar Manager. Er erkennt Aufgaben und will sie lösen. In Auseinandersetzungen stellt er sich nur in Antworten dar. Brandt ist die Vertrauensperson an der Spitze des Haufens. Er erkennt Aufgaben und will sie verstehen. In Auseinandersetzungen gibt er zu erkennen, dass er es für möglich hält, dass der andere recht hat. Schmidt führt, um, koste es, was es wolle, sein Ziel zu erreichen. Brandt will zwar auch sein Ziel erreichen – er hat innerhalb weniger Jahre die Mehrheit der Westdeutschen von seiner Ostpolitik überzeugt, die diese vorher abgelehnt hatten –, aber er will auch seine Leute zusammenhalten und neue dazugewinnen. Das war ihm 1972 eindrucksvoll gelungen. Schmidts Amtszeit endete dagegen 1982 mit der Spaltung der Partei und dem Aufkommen der Grünen.
Zehn Jahre früher aber, nach dem Wahltriumph, wollte man in den oberen Rängen der SPD straffere Führung und traute sie Brandt nicht zu. „Der Herr badet gern lau“, höhnte der SPD-Fraktionsvorsitzende Herbert Wehner vor Journalisten ausgerechnet in Moskau. Und Helmut Schmidt hatte Brandt auf einer Bilderberg-Konferenz einen „Scheißdemokraten“ genannt, was in den Stern gelangt war. Der Kanzler setzte sich in einem Brief an dessen Chef Nannen für seinen Verteidigungsminister ein, was nichts half. Der hoch angesehene Soziologe und Europapolitiker Ralf Dahrendorf wollte es auf seinen Eid nehmen, dass Schmidt sich so geäußert hatte.
Brandt scheint sich in dieser Angelegenheit tadellos verhalten zu haben. Das konnte indes Schmidt nicht milder stimmen, denn nichts verträgt ein Mensch so wenig wie moralische Überlegenheit eines anderen, und besonders dann, wenn man sich für besser hält. Als Schmidt 1974 Bundeskanzler wurde, wollte er sogleich zeigen, wo es nun langging. Brandt musste ihm einen Brief schreiben, in dem er um schonende Behandlung seiner Mitarbeiter im Bundeskanzleramt bat. Er hatte keinen übermäßigen Erfolg damit. Schmidt wollte aufräumen.
Die Nachrüstungsdebatte, die zur Abwahl Schmidts im Bundestag führte, vertiefte dann in dem Hamburger endgültig das bittere Gefühl, von dem SPD-Vorsitzenden in entscheidenden Auseinandersetzungen allein gelassen zu werden. Niemand wird behaupten, Brandt sei dem Kanzler in den folgenden politischen Kämpfen eine Stütze gewesen. Das hat Schmidt zornig registriert. Zwar verstand er es, seinen Sturz aus wirtschaftspolitischen Gründen dem Koalitionspartner FDP in die Schuhe zu schieben und eine Verratskampagne gegen die Liberalen zu inszenieren, aber beim nächsten SPD-Parteitag in Köln erhielt seine Nachrüstungspolitik nur noch 14 Stimmen. Da hätte jeder Mann mit Selbstachtung die Partei verlassen. Nicht so Schmidt. Und als über die Nachrüstung im Bundestag zu entscheiden war, stimmte der Hamburger gegen seine eigene Politik, die nun von seinem Nachfolger, Bundeskanzler Helmut Kohl, verantwortet wurde.
Diese Dinge erscheinen in den Briefen der beiden Politiker mit größtem Abstand von Emotionen. Gerade deshalb drängt sich der Eindruck auf, dass es Freundschaft zwischen Brandt und Schmidt nie gegeben hat und sie nur eine Erfindung der Hagiografen ist. Freundschaft ist bei Brandt überhaupt schwer vorstellbar, dafür gibt es einige, ganz anders gelagerte Gründe. Freundschaft ist bei Schmidt eher etwas, das er in den Offizierskasinos der Wehrmacht kennengelernt hat. Auffallend sind etliche Anknüpfungsmerkmale, die er von dort mitgenommen hat und die seine Biografie kennzeichnen. Auch das legt – wie schon indirekt dieser Briefwechsel – den Schluss nahe, dass die beiden Herren sich verabscheuten.
Sie waren unterdessen über 60, über 70 Jahre alt geworden. Thema wird jetzt die schlechte Behandlung durch die Partei. Es ist tatsächlich unglaublich, wie sehr Brandt und Schmidt durch die SPD gedemütigt worden sind. Schmidt durch Oskar Lafontaine, auch durch die Parteizeitung Vorwärts, Brandt durch das Ignorieren seiner Überzeugungen. Schmidt ist es, der brieflich feststellt, dass beide als Kanzler von der Bevölkerung mehr geschätzt wurden als von ihrer Partei. Das konnte Gerhard Schröder zuletzt auch von sich sagen. Aber alle drei hat das nicht dazu gebracht, darüber nachzudenken, was mit ihrer Partei nicht stimmen könnte. Dazu waren und blieben sie zu sehr Parteileute.
Info
Willy Brandt/Helmut Schmidt. Partner und Rivalen. Der Briefwechsel (1958 – 1992) Meik Woyke (Hrsg.) Dietz 2015, 1.104 S., 39,90 €
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