Niemand will Bundespräsident werden. Sätze, die mit dem Wort „Niemand“ beginnen, haben in Deutschland seit Ulbrichts „niemand hat die Absicht ...“ vor 55 Jahren eine besondere Prägekraft. Aber dieser Satz scheint außerdem noch zutreffend zu sein. Seit Joachim Gauck seine Absicht kundgetan hat, nicht für eine zweite Amtszeit im Schloss Bellevue zur Verfügung zu stehen, reiht sich im Gespräch über die Nachfolge Name an Name. Genauso schnell folgen die Absagen der Genannten. Zuletzt war es die frühere Bischöfin und Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, Margot Käßmann, die einer Kandidatur widersprach, von der kein Geringerer als der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel voreilig gesprochen hatte. Dabei hatte sich Gabriel der Zustimmung des Parteivorsitzenden der Linken, Bernd Riexinger, versichert, den er für den Anruf in Kreta aufgestöbert hatte. Aber Käßmann sagte „Nein“. Und Nein heißt Nein.
Woher kommt solche Zurückhaltung? Blicken wir zurück auf nahezu 70 Jahre Bundespräsidentschaft, so fällt auf, dass tatsächlich nur drei Staatsoberhäupter das Amt mit einiger Energie angestrebt hatten. Da war der vierte Präsident der Republik, der FDP-Vorsitzende Walter Scheel, der nach schwierigen, aber erfolgreichen Jahren als Außenminister der ersten sozial-liberalen Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt den Umzug, damals noch in die Villa Hammerschmidt am Rhein geradezu als Belohnung haben wollte. Der sechste, Richard von Weizsäcker, kämpfte beinahe um das Amt. Er wurde dann von der eigenen Partei, der CDU, zuerst ein wenig widerwillig, fünf Jahre später eher unwillig gewählt. 1989 hoffte er innig darauf, dem ungeliebten Kanzler Helmut Kohl nach der nächsten Bundestagswahl die Verabschiedungsurkunde überreichen zu können. Es kam anders. Die nächste Bundestagswahl war die für das wiedervereinte Deutschland – und Weizsäcker sah erbittert, wie Kohl Kanzler blieb.
Krönung einer Laufbahn
Der achte Bundespräsident, Johannes Rau, strebte mit dem Amt die Krönung seiner Laufbahn an, die er als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen bis dahin glanzvoll bestritten hatte. Dann setzte er seine Partei, die SPD, unter Druck, und Bundeskanzler Gerhard Schröder musste dafür sorgen, dass er nach Berlin umziehen konnte. Jetzt liegt er auf dem Dorotheenstädter Friedhof begraben. Darunter ging es nicht.
Alle drei waren denn auch prononciert politische Bundespräsidenten – so, wie es vor Scheel Gustav Heinemann gewesen war, der das Amt in einer Kampfabstimmung der Bundesversammlung erreichte und seinen Erfolg „ein Stück Machtwechsel“ nannte. Der Machtwechsel wurde mit der Wahl Scheels perfekt, und was die Unionsparteien zunächst als einen Betriebsunfall angesehen hatten, war als neue Normalität in der alten Bundesrepublik erwiesen. In den zehn Jahren Richard von Weizsäckers konnte der Präsident sogar als konkurrierende Instanz neben dem Kanzler erscheinen, was es in solcher Hartnäckigkeit weder vorher noch nachher gegeben hat. Richard von Weizsäckers Ausscheiden aus dem Amt wurde von vielen Unionspolitikern mit Erleichterung begrüßt. „Es sei“, hieß es, „ein Stilwechsel“ erforderlich. Die SPD war traurig.
Johannes Rau teilte mit Scheel und Weizsäcker die Begabung für schwungvolle Auftritte und die klug gesetzte Rede. Seine Amtszeit hätte es verdient, besser in der Erinnerung geblieben zu sein. Allein, Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine, Brandts „Enkel“, sorgten, nach den langen Kohl-Jahren endlich an der Regierung, für so viel Wirbel, dass Raus Präsenz daneben verblasste. Er hätte gern eine zweite Amtszeit gehabt, aber da war die Union schon wieder stark genug, um das zu verhindern. Rau trat gar nicht erst an.
Schon da trat das Kalkül ins Blickfeld, das einen erfolgreichen Politiker bestimmt, für eine unsichere Wahl gar nicht erst zur Verfügung zu stehen. Das verweist auf eine tückische Besonderheit des Amtes in dem politischen Ordnungsgefüge der Bundesrepublik. Darein gewählt zu werden, bedeutet eine große Ehre. Aber es ist nicht mit realer Macht verbunden. Das bedeutet aber: Wer um reale Macht kämpft, kann verlieren. Aber erstens ist es unbedingt ehrenhaft, um die Macht zu kämpfen, selbst wenn man verliert. Und zweitens kann man die Macht trotzdem noch gewinnen. Willy Brandt gelang das 1969 im dritten Anlauf, wenn auch aufs Kanzleramt.
Des Amtes nicht würdig
Wer bei der Wahl durch die Bundesversammlung scheitert – dort wählen zur Hälfte die Bundestagsabgeordneten, die andere Hälfte wird in den Ländern bestimmt –, der ist mit der Bewerbung um ein Amt gescheitert, das hohe Ehre bedeutet. Es kann so aussehen, als sei er dieser nicht würdig gewesen. Das soll so aber nicht aussehen, weshalb am Wahltag von allen immer viel Mühe darauf verwendet wird, dem unterlegenen Kandidaten für seine Bereitschaft zur Kandidatur zu danken. Was dessen Gesicht meist nicht fröhlicher aussehen lässt.
Das erklärt seit langem schon die Zurückhaltung bei der Anmeldung einer solchen Kandidatur. Es gibt freilich auch handfeste Gründe. Konrad Adenauer etwa, der in den ersten zehn Jahren seiner Kanzlerschaft den ebenso lange amtierenden ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss sehr kurz gehalten hatte, sollte nach dessen Ausscheiden, so wünschten es viele in der Union, diesem nachfolgen. Adenauer sagte erst zu, dann wieder ab – nachdem er sich kundig gemacht hatte, wie wenig das Staatsoberhaupt zu bestellen hatte.
Diese Absage war 1959 ein Skandal, und die im Bundestag mit absoluter Mehrheit regierende Union bekam es gerade noch hin, mit dem Landwirtschaftsminister Heinrich Lübke einen präsentablen Kandidaten aufzubieten. Lübkes Amtszeit war nicht so schlecht, wie sie lange Zeit gemacht wurde, und sein Nachfolger Gustav Heinemann hat dies zu seinem Tod würdig zum Ausdruck gebacht. Heinemann hatte vom Amt nicht geträumt, es aber kraftvoll angestrebt, weil er den politischen Gewinn für seine Partei, die SPD, klar erkannte. Auch der fünfte Bundespräsident, Karl Carstens aus Bremen, erfüllte fünf Jahre lang eher eine Pflicht, als dass er seine Amtszeit als Gelegenheit zur Kür aufgefasst hätte. Ausgerechnet aber bei Carstens, dem Staatsrechtler, wurde deutlich, welches politische Gewicht der Bundespräsident doch noch bekommen kann. Als Kohl nach dem gewonnenen konstruktiven Misstrauensvotum 1982 als Kanzler Neuwahlen anstrebte, war der Zug umstrittener als zuvor bei Willy Brandt. Doch so wie bei Brandt 1972 Heinemann freie Fahrt signalisiert hatte, tat es Carstens. Er tat es, immerhin, widerwillig.
Roman Herzog vom Bundesverfassungsgericht, von Kohl für die Politik entdeckt, trat erst an, als der Kanzler mit einem anderen Vorschlag gescheitert war. Er musste es tun, um Kohls Ansehen in dieser Frage zu retten. Später schien er das Amt zu genießen. Bekannt wurde er für seine „Ruck-Rede“, mit der er das Land zu Reformen aufrief. Das war eine politische Tat – gefolgt ist ihm die erste rot-grüne Regierung.
Horst Köhler und Christian Wulff, die ersten beiden Bundespräsidenten der Ära Angela Merkel, waren schon Verlegenheitskandidaten. Auf bekanntere Namen aus der ersten Garnitur der Politik konnte man sich nicht einigen. Wer gar nicht wollte, ist nicht bekannt geworden. Man einigte sich schließlich in Kungelrunden. Das Ergebnis war besser als der Ruf, der ihm anhaftet. Auch die Entscheidung für Joachim Gauck war aus der Verlegenheit geboren: der zweite Seiteneinsteiger in der Reihe der Bundespräsidenten. Aber hier – wie bei Köhler – war wenigstens der größere Teil der Bevölkerung überzeugt, das richtige Oberhaupt an der Spitze des Staates zu haben.
Angela Merkel scheint nichts von dem Gedanken zu halten, sie könne nach Gauck Bundespräsidentin werden. Macht macht verliebt in die Macht. Also muss die Politik nun suchen. Da gibt es Frank-Walter Steinmeier von der SPD, Norbert Lammert von der CDU, Gerda Hasselfeldt von der CSU, Winfried Kretschmann, den Grünen. Die beiden von den großen Parteien haben schon abgewinkt – allerdings nur ein bisschen. Auf einen von den kleinen Parteien müssten sich die Großen erst einigen. Das wird schwierig, denn da ist die wuchernde Rede von dem Signal, das von der Wahl ausgehen würde, und da fürchten die Parteistrategen Ungemach für die Nordrhein-Westfalen-Wahl im Frühjahr 2017 und die Bundestagswahl im Herbst. Der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz möchte vielleicht lieber in Straßburg bleiben, könnte aber auch mit einer Kanzlerkandidatur für die SPD liebäugeln. Eine Kampfkandidatur für Berlin erscheint da weniger attraktiv. Sigmar Gabriel, der gemeinsam mit Angela Merkel sucht, hat es schwer.
So einfach, wie es früher war, sind Politiker der ersten Reihe nicht mehr als Parteisoldaten in die Pflicht zu nehmen. Diese Politiker sind zu Stars geworden. Sie genießen jeden Auftritt, so wie Lammert zuletzt in der Semper-Oper bei seiner billanten Rede zur deutschen Einheit. So wie Steinmeier bei internationalen Treffen. Der politische Kampf ist ihnen weniger wichtig als ihre Selbstdarstellung. Ihre politische Karriere hat sie ganz nach oben gebracht. Weshalb dort einen Ansehensverlust riskieren? Hinzu kommt: Stars sind selten. Wer aus der ersten Reihe von CDU oder SPD käme denn noch in Frage? Und auch in den kleinen Parteien stolpern sie nicht übereinander. Als immerhin Adenauer das Amt Lübke zuschanzte, wurde der gewaltige Niveauunterschied als peinlich empfunden. Die Stars in der politischen Manege von Berlin könnten mit ihrem Ausweichen vor der politischen Pflicht das Amt beschädigen.
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