Phrasen sind wie Prügelstrafen

Rhetorik Die aktuelle Phrase der westlichen Welt lautet: „Unsere Werte“. Davon spricht auch unentwegt unsere Bundeskanzlerin. Was genau sie meint, bleibt aber Auslegungssache
Ausgabe 05/2015

Zeiten großer Hektik sind fast immer auch Zeiten unaufhaltsamer Phrasen. Dabei ist das Ärgerliche an Phrasen ja nicht, dass etwas falsch wäre, was sie wortwörtlich sagen, sondern dass sie ihre wenigen Worte unablässig wiederholen. Bis in die höchsten Kreise hinein. Als vor 40 Jahren in Düsseldorf der Weltkongress der Philosophen stattfand, kamen auch Gelehrte aus den Ostblockstaaten dorthin. Man konnte mit Leuten, die man sonst nie traf, interessante Gespräche führen, auch wenn dann immer einer dabeistand, der eine ganz alte Phrase im Indikativ lebte und so Wirklichkeit werden ließ: Er schwieg eisern und blieb dadurch Philosoph. Andere aber in ihren grauen Anzügen sagten immer und pausenlos „Frieden“ wie der Engel aus Heinrich Bölls Erzählung Nicht nur zur Weihnachtszeit. Westliche Philosophen stöhnten, das Wort Frieden werde einem geradezu unsympathisch. Wenig später marschierten die Sowjets in Afghanistan ein. Dort ist jetzt die NATO immer noch. Kein Frieden nirgends.

Die aktuelle Phrase der westlichen Welt lautet: „Unsere Werte“. Darunter kann man sich einiges von den Autoren der Aufklärung vorstellen, einiges aus der Erklärung der Menschenrechte, wie sie am Anfang der Geschichte der USA stand. Aber was hat zumal Letztgenanntes mit dem gegenwärtigen Präsidenten Barack Obama zu tun, seit sechs Jahren Herr über das Foltergefängnis Guantanamo? Was hat das mit dem Bild dieses Präsidenten zu tun, wie er in der Sofaecke seines Oval Office vor der Fernsehkamera sitzt und zusieht, wie im fernen Pakistan Osama bin Laden überfallen und erschossen wird? An dem Bild fehlte nur noch, dass der Friedensnobelpreisträger von 2009 dabei wie im Kino Popcorn mümmelte. Und andere? Als von der Folterpraxis der Ära George W. Bush die Rede war, verzichtete kaum jemand auf den Hinweis, dass das Foltern gar nichts ergeben habe. Kommt es darauf an?

Von unseren Werten spricht nun auch unentwegt Bundeskanzlerin Angela Merkel. Doch dabei umgibt sie sich am liebsten mit Gestalten, die das Wort von den Werten ganz anders verstehen. Zu denken ist dabei an die Geburtstagsfeier für den Banker Josef Ackermann. Ihr gewesener Lieblingspräsident Christian Wulff hatte immerhin den Vorzug, dass er weithin bekannt machte, was er unter einem Wert verstand: ein Einfamilienhaus in Burgdorf bei Hannover. Da war Merkels Vorgänger, Gerhard Schröder, schon direkter. Er sprach gar nicht erst von unseren oder seinen Werten, sondern er führte sie, kaum, dass er sich von seinem Amt befreit hatte, unbefangen vor, Arm in Arm mit seinen Freunden Wladimir Putin und Carsten Maschmeyer. Frau Merkels Luxus ist wohl nur Bayreuth, und mit Richard Wagner schließlich reicht sie in die Zeit zurück, als François Guizot, der Minister des Bürgerkönigs Louis-Philippe I., die Losung ausgegeben haben soll: „Bereichert euch!“ Genauer sind Werte nie auf den Punkt gebracht worden.

Zur Phrase verkommen ist auch Kurt Tucholskys Wort, die Satire dürfe alles. Alles? Feinere Geister zitieren Voltaire: Ich bin nicht Ihrer Meinung, aber ich kämpfe dafür, dass Sie sie äußern dürfen. Beziehen wir das auf Charlie Hebdo. Erschiene diese Zeitschrift mit ihrem Karikaturenstil in Deutschland, hieße es bei einigen Zeichnungen längst: Das ist ja wie der Stürmer! Zurück zu Voltaire: Ich bin nicht Ihrer Meinung, aber ich kämpfe dafür, dass Sie sie in diesem Stil verbreiten dürfen. Möchte das jemand sagen? Zurück zu Tucholsky: Mag sein, dass eine Satire alles darf. Aber nicht alles ist Satire.

Phrasen sind wie Prügelstrafen. Sie stumpfen ab, machen unempfindlich. So geplagt, möchte man einem Zitat aus dem satirischen Roman Die Merowinger des Österreichers Heimito von Doderer zustimmen: „Verprügelt mir nicht alle, aber die Richtigen kräftig.“

Der Autor und Journalist Jürgen Busche schreibt in seiner Kolumne Unter der Woche regelmäßig über Politik und Gesellschaft

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