In dem ersten Text dieser Sammlung geht es um eine Novelle von Dostojewski: Die Sanfte. Sie handelt von einem Mann, dessen Lebenspläne früh scheiterten, und einer Frau, die er aus dem Elend holte und heiratete. Die Frau hat zuletzt Selbstmord begangen und nun rekapituliert der Mann das Zusammensein mit ihr. So knapp kann man die Konstellation bezeichnen. Hans Blumenberg schrieb darüber elfeinhalb Seiten. Er analysiert die Konstellation bis in ihre kleinsten Verzweigungen, bis in ihre letzten Konsequenzen. Aber er verliert kein Wort über Psychologisches. Und er scheint sich überhaupt nicht für das sprachliche Kunstwerk zu interessieren, das die Novelle eines großen Dichters ja auch ist. Er analysiert das, was Dostojewski im Kopf hatte, bevor der zu schreiben begann. Und das interessierte ihn nicht wegen des Autors, sondern ausschließlich wegen der Konstellation, die ihn nicht in Ruhe ließ.
Hans Blumenbergs Schriften zur Literatur – so der Titel der Sammlung – sind in ihren besten Stücken durchweg Konstellationen gewidmet, die ihn selbst lebensgeschichtlich beschäftigten. Es sind tatsächlich sehr unterschiedliche Texte. Die Beiträge für Tageszeitungen würde heute kaum ein Blatt drucken und sie sind jetzt wohl nur hervorgeholt worden, weil Blumenberg einer der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts war. Das hat sich immerhin gelohnt, denn der Beitrag zum 70. Geburtstag von Franz Kafka (Düsseldorfer Nachrichten) oder die Rezension von Samuel Becketts Molloy (Bremer Nachrichten) sind Hingucker. Anderes erscheint überflüssig und war es wohl schon, als es erschien. Für Artikel über Marcel Proust, Alain Robbe-Grillet oder William Faulkner – nicht zu vergessen: Thomas Mann – gilt das eher nicht, aber man muss sie auch nicht lesen.
Wichtig wird es immer, wenn Blumenberg sich beim Lesen mit sich selbst beschäftigt. Und das ist in den Aufsätzen der Fall, in denen sich der ehemalige Theologiestudent nach überstandener Zwangsarbeit im Krieg zur Philosophie wandte. In der katholischen Zeitschrift Hochland befasst er sich mit katholischen Schriftstellern wie Evelyn Waugh oder Ernest Hemingway, mit Franz Kafka oder T. S. Eliot. Immer geht es um die Konstellation von Welt und Glauben. Wie kann man überhaupt glauben? Wie lösen Schriftsteller die Schwierigkeiten, in die sie oder ihre Protagonisten in dieser Konstellation geraten? Dies war Blumenbergs Thema nach dem Krieg und in den ersten Jahren nach dem Philosophiestudium. Er traktierte es auch in Texten, die sich im Nachlass fanden: so in einer sorgfältigen Ausbreitung des zentralen Themas von Paul Claudels Riesendrama Der seidene Schuh und in einer nummerierten, Punkt für Punkt vorgestellten Darlegung des Inhalts von Sartres Drama Die Fliegen. Was ihn bei alldem umtreibt, ist das Problem des Nihilismus. Das interessiert ihn an Ernst Jünger, den er zeit seines Lebens bewunderte, und an Graham Greene. Und an Franz Kafka, für Blumenberg „der Einzige unter den deutschen Schriftstellern dieses Jahrhunderts“, dem es gelungen sei, die „gültige Gestaltung unserer Situation, der nihilistischen Situation“ zu schaffen. Um den Nihilismus geht es auch in dem hier abgedruckten Vortrag, in dem, wie in anderen Stücken auch, eine gewisse Nähe zu Heidegger erkennbar ist, den Blumenberg später heftig ablehnte.
Romane verschlungen
Dass nirgendwo von der Kunst der Schriftsteller die Rede ist, bedeutet nicht, dass Kunst hier völlig ausgeschlossen ist. In einem Aufsatz über Graham Greene heißt es, bei ihm trete etwas „vom Wesen aller Kunst in schärfster Zuspitzung zutage: dass das Werk kein Objekt ist, das seine Aussage beliebig hergibt ... sondern sich erst im Dialog mit dem, der es empfängt, versteht und auslegt, zu seinem integralen Sinn erhebt“. Also wieder: die Konstellation, hier von Autor und Leser. Und der Leser heißt über Jahre hinweg immer Hans Blumenberg. Es verbietet nur der unvermeidbar hohe Respekt, mit dem man diesem Philosophen begegnet, dass man seine Art, zu lesen, nicht mit der junger Frauen vergleicht, die einen Liebesroman nach dem anderen verschlingen. Bei Blumenberg ist es in diesen Jahren der Glaube in seiner Zeit, der ihn mehr als vieles andere beschäftigt. Und so sind es auch nur Gegenwartsromane, über die er schreibt, davon aber viele.
Um das zu verstehen, muss man etwas aus Blumenbergs Leben wissen. Der Lübecker war Sohn einer jüdischen Mutter. Die überlebte die nationalsozialistische Diktatur, weil sie, schwer krank, bei katholischen Ordensschwestern in einer Heilanstalt untergebracht war. Alle Mitglieder ihrer Familie wurden im KZ ermordet. Sie selbst starb wenige Tage nach der Befreiung. Blumenberg (Jahrgang 1920) gehörte als Heranwachsender der katholischen Jugendbewegung an. Er verfügte als Abiturient schon über eine stattliche Privatbibliothek mit theologischen Werken. Er wollte Priester werden. Als sogenanntem Halbjuden stand ihm zunächst nur das Studium in einem Priesterseminar offen, bis ihm auch das verwehrt wurde.
Die Orientierung hin zur Philosophie nach dem Krieg erfolgte rasch. Die Loslösung vom Glauben zog sich hin und war schwieriger. Mit dem Abschied vom Hochland 1957/58 vollzog sich auch der Abschied vom Gegenwartsroman. Der bedeutende Vortrag über den Roman, den er 1963 im Rahmen der ersten Konferenz der interdisziplinären Arbeitsgruppe „Poetik und Hermeneutik“ hielt, ist streng philosophisch strukturiert und gilt dem Roman der Neuzeit von Cervantes bis Jean Paul. Erst viel später schrieb er wunderbare Stücke über Goethe und Theodor Fontane.
„Der Deutsche“, bemerkt Ernst Jünger irgendwo, „ist unfähig zu literarischen Wertungen.“ Das trifft auf Blumenberg ausweislich seiner Schriften zur Literatur zu. Aber wenn er selber schrieb, war das Ergebnis zumeist Philosophie als literarische Gattung von allerhöchstem Rang.
Info
Schriften zur Literatur 1945 – 1958 Hans Blumenberg Suhrkamp 2017, 370 S., 32 €
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