Unbekannte Seitenwege

Philosophie Erstmals sind frühe öffentliche Vorträge von Martin Heidegger in einem Band versammelt
Ausgabe 25/2016

Als Band 80 der Gesamtausgabe der Schriften von Martin Heidegger sind jetzt Vorträge des Philosophen erschienen – und der erste Teilband ist den Jahren 1915 bis 1932 gewidmet. Er enthält hauptsächlich Vorträge aus den 20er Jahren, also aus einer Zeit, in der bis zu Sein und Zeit (1927) kein Buch des damals schon von der Fama des Besonderen umgebenen Denkers herausgekommen war.

Heidegger, der für seine Berufung von Freiburg nach Marburg ein Manuskript eingereicht hatte, das ein Zentrum seiner Forschungsarbeit beschrieb, galt als ungewöhnlich intensiver Lehrer. Späterhin berühmte Leute waren schon zu ihm nach Freiburg gegangen und pilgerten jetzt nach Marburg. Was Heidegger an seinen Universitäten in jenen Jahren trieb, konnte man schon aus den Bänden der Gesamtausgabe erfahren, die seine damaligen Vorlesungen enthalten. Die nun veröffentlichten Vorträge zeigen vor allem, wie er sich als junger Gelehrter der Öffentlichkeit präsentierte.

Diese Öffentlichkeit verdiente ihren Namen. Damals gab es in Deutschland eine an vielen Orten sehr rührige Kant-Gesellschaft. Auf deren Einladung hin hielt Heidegger 1923/24 etwa seinen Vortrag Wahrsein und Dasein (nach Aristoteles) in Hagen, Elberfeld, Köln, Düsseldorf, Essen und Dortmund. Über Wilhelm Dilthey und den „gegenwärtigen Kampf um eine historische Weltanschauung“ sprach er im April 1925 vor der Kurhessischen Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft in Kassel an fünf Abenden hintereinander. Sein Schüler Walter Bröcker (später Ordinarius in Kiel) stenografierte die Ausführungen mit und arbeitete sie auch aus. Von dieser Ausarbeitung stellte ein anderer Schüler, Herbert Marcuse, eine Schreibmaschinenabschrift her, nach der die Drucklegung erfolgte.

Herbert Marcuse , der als Student schon bei den Kommunisten organisiert war, widmete Jahre später Heidegger ehrfürchtig seine Habilitationsschrift. Von Heideggers heute vielfach behaupteter Nähe zum Nationalsozialismus, die schon lange vor 1933 eingesetzt haben soll, hat Marcuse entweder nichts bemerkt – oder sie war ihm wurscht. Kenner des nachmaligen Heros der Frankfurter Schule mögen es sich aussuchen. Marcuses spätere Distanzierung von seinem Lehrer bezog sich auf dessen ungerührtes Schweigen über sein Engagement für Hitler nach 1945.

Dezidiert politische Akzente werden in diesen frühen Vorträgen jedenfalls nicht gesetzt. Ob sie Heidegger ganz und gar nicht interessiert haben, ist heute schwer zu sagen. Lange Zeit war von einem Vortrag über Oswald Spengler die Rede . Nun heißt es, Heidegger habe ihn vernichtet, wann, weiß man nicht. Das ist ungewöhnlich für ihn. Spengler selbst behauptete stets, er habe mit dem Untergang des Abendlandes ein politisches Buch geschrieben. Hat Heidegger das gemerkt und seine Worte dazu waren ihm hernach selber peinlich? Oder hatte er erkannt, dass es mit Spengler philosophisch nicht weit her war?

Zumeist begleiten die hier abgedruckten Vorträge das Entstehen seiner Werke von Sein und Zeit bis zu Vom Wesen der Wahrheit, ursprünglich vorgetragen in Karlsruhe 1930, dann in Bremen, Freiburg, Marburg und Dresden (1932). Neben Vorarbeiten zu Vorträgen in Marburger und Freiburger „Kollegenkränzchen“, so etwa zu Platons Höhlengleichnis, enthält der nun vorliegende Band auch ergänzende Seitenwege, etwa den Vortrag Hegel und das Problem der Metaphysik, 1930 in Amsterdam und am Deutschen Gymnasium in Den Haag gehalten. Das ist Philosophiegeschichte – so, wie Heidegger sie betrieb, und so, wie er längst Teil dieser Geschichte geworden ist.

Info

Vorträge 1915 – 1932 Martin Heidegger Günther Neumann (Hg.), Verlag Vittorio Klostermann 2016, 526 S., 58 €

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