Fast genau ein Jahr nach Angela Merkels inzwischen legendären „Wir schaffen das“ haben Donald Trump und Edmund Stoiber die Gelegenheit genutzt und die Kanzlerin drastisch in den Senkel gestellt. Sie haben es mit gleicher Verve getan, aber nicht mit denselben Worten. Das freilich liegt wohl nur daran, dass der eine sich im Wahlkampf befindet („Hillary Clinton könnte die amerikanische Merkel werden“) und der andere es überhaupt nicht so mit Worten hat. Wieder einmal hat die Frau aus dem Osten das Glück gehabt, das ihre ganze Kanzlerschaft begleitet: Wann immer es Anlass gibt, sie zu kritisieren, geschieht das zuverlässig von etlichen Zeitgenossen derart brachial, dass nachdenkliche Kritiker sich zurückhalten. Wer will schon zu Trump oder Stoiber ins Boot steigen?
Es ist aber überhaupt auffällig, dass die Zuwanderung von Flüchtlingen, einst rasch als die größte Herausforderung für die Deutschen seit Ende des Zweiten Weltkriegs angesehen, keine große Diskussion hervorgebracht hat. Gewiss, es haben sich Journalisten die Finger wund geschrieben – aber das haben sie im Fall Uli Hoeneß auch getan. Leserbriefschreiber haben die Redaktionen zur Verzweiflung gebracht – was auch keine Seltenheit ist. Pastoren haben gepredigt und Talkshows haben sich dumm und dusselig gequatscht. Aber die großen Geister der Republik haben geschwiegen. Von den illustren Preisträgern des Landes, gelobt für die Fingerzeige, die sie in Wort und Schrift geben, war nichts zu vernehmen. Buchverlage, die sonst gern in aktuellen Sammelbänden die Aufsätze vereinigen, mit denen der Nation das Gewissen geschärft werden soll, hatten fast nichts zu tun. Die große Diskussion hat nicht stattgefunden.
Statt ihrer war die Arbeit der Vielen zu bewundern. Was schon beim Empfang der Flüchtlinge weltweit Staunen erregte, setzt sich in geduldiger, oft auch aufopfernder Arbeit fort. So sehr einzelne Übergriffe Teile der Bevölkerung erschrecken: Bei Beachtung der Gesamtzahl der in kürzester Zeit Zugezogenen ist wenig Beunruhigendes passiert. Die Aufregung ist dennoch groß und die Sorgen bleiben berechtigt.
Der Amoklauf in München (kein Flüchtling) war schlimm – aber auch nicht schlimmer als die Amokläufe von Winnenden oder Erfurt. Nur die Vermutungen, die anfänglich die Wahrnehmung der Tat begleiteten, gaben ihr vorübergehend eine ganz andere Dimension. Und das ist eine zwingende Folge nach den Anschlägen von Brüssel und Nizza, bei der zeitlichen Nähe der Taten von Würzburg und Ansbach. Die Reaktionen darauf sind verständlich, werden aber auch umsichtig erörtert. Überhaupt ist in den Jahr, das auf das „Wir schaffen das“ folgte, einiges geschehen, um die Situation zu entspannen. Das Meiste und Wirksamste allerdings nicht in Deutschland. Umgekehrt sind die deutschen Maßnahmen keineswegs so dramatisch, wie sie hingestellt werden.
Am wenigsten dramatisch sind die politischen Folgen. Immer noch liegt die Union in Umfragen weit vor der SPD. Der danach beliebteste Politiker der Deutschen, Winfried Kretschmann, ist in der Flüchtlingsfrage ein wackerer Unterstützer Angela Merkels. CDU-Politiker, die das offensiv nicht waren, wurden vom Wähler abgestraft. Nur die Beliebtheitswerte der Kanzlerin sind erheblich zurückgegangen.
Aber müsste sie, wenn schon in diesem Herbst gewählt würde, um ihre Wiederwahl fürchten? Wohl kaum. Hier lohnt es sich, über die Bedeutung von „Mutti“ nachzudenken. Über Mutti kann man sich manchmal ärgern, man kann sie verwünschen und jedem, der es hören will, sagen: Diesmal ist sie aber zu weit gegangen. Und trotzdem möchte niemand, dass Mutti geht. Noch ist das Haus, in dem sie regiert, ohne sie nicht vorstellbar. Wer will, kann das „noch“ unterstreichen.
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