Verfassungsrichter schwächen EU-Parlament

Demokratie Das Bundesverfassungsgericht kippte die Dreiprozenthürde für das EU-Parlament. Die NPD profitiert jetzt davon
Ausgabe 23/2014
Verfassungsrichter schwächen EU-Parlament

Foto: Stockhoff/ imago

Heinrich Krone, Katholik, Zentrumsmann, nach dem 20. Juli 1944 drei Monate in Gestapo-Haft, Mitbegründer der CDU, zeitweilig Fraktionsvorsitzender im Deutschen Bundestag, zeitweilig Sonderminister, wahrscheinlich der engste Berater Konrad Adenauers, schrieb am 24. März 1962 in sein Tagebuch: „Ist es von Vorteil oder zum Nachteil, dass wir in Karlsruhe ein Verfassungsgericht haben? Es schadet mehr als es nützt.“ Diese Worte musste man bisher als befremdlich empfinden. Aber vielleicht muss man darüber noch einmal nachdenken.

Seit 2014 – dieses Datum wird man sich hoffentlich nicht merken müssen – sitzt ein Abgeordneter der NPD im EU-Parlament. Einen solchen Erfolg hat diese Partei bei Bundestagswahlen nie erringen können. Sie verdankt ihn jetzt etwa 350.000 Wählern und dem Bundesverfassungsgericht. Die Wähler allein hätten es nicht geschafft. Die Verfassungsrichter, an ihrer Spitze Andreas Voßkuhle, haben den Erfolg dadurch möglich gemacht, dass sie die Dreiprozenthürde für die Wahl zum Europäischen Parlament für grundgesetzwidrig erklärten. Insofern also Verfassungsgerichtspräsident Voßkuhle gleichsam der Vater des ersten NPD-Abgeordneten in Straßburg ist und Vaterschaft auch Namensgebung bedeuten sollte, wäre es recht und billig, diesen Abgeordneten fortan Voigt-Voßkuhle zu nennen.

Der Vorgang hat in Deutschland bisher wenig Aufmerksamkeit erregt. Sehr wenig, wenn man bedenkt, was los ist, wenn in einem vorpommerschen Kuhdorf ein NPD-Mann in den Gemeinderat einzieht. Skandalös wenig, wenn man erlebt, wie man derzeit wegen der Wahl des Kommissionspräsidenten unentwegt von der gestiegenen Bedeutung des EU-Parlamentes redet.

Mehr war da schon von dem – ebenfalls durch das Bundesverfassungsgericht ermöglichten – Erfolg der Partei namens „Die Partei“ die Rede, für die nun der Satiriker Martin Sonneborn auf einem der Abgeordnetensitze Platz nehmen wird. Sonneborn hat freilich schon angekündigt, dass er diesen Job nur für kurze Zeit übernimmt, dann sollen andere nachrücken, damit möglichst viele für einige Zeit in den Genuss der Diäten kommen. Vielleicht sollte man die so zu erwartende Abfolge die Voßkuhle-Stafette nennen.

Übler als nun das EU-Parlament ist in Deutschland seit 1945 kein Parlament mehr verhöhnt worden. Andere sprachen einst von einer „Quasselbude“. Die Grundlage dafür hat das Bundesverfassungsgericht mit der Abschaffung jeder Sperrklausel bei der Europawahl geschaffen. Die ist völlig unlogisch, denn im Geltungsbereich des Grundgesetzes gilt sie ja bei Bundestagswahlen mit der Fünfprozenthürde unverändert weiter. Wieso ist hier verfassungskonform, was dort verfassungswidrig ist? Weil, so das Gericht, es im Bundestag um etwas geht, zum Beispiel um die Wahl von Verfassungsrichtern oder deren Besoldung. Und im EU-Parlament geht es um nichts? So direkt haben das die Karlsruher Richter nicht gesagt. Aber im Ergebnis läuft es darauf hinaus, Spitzenkandidat hin oder Kommissionspräsident her. Das Bundesverfassungsgericht hat den Wählern in Deutschland zu verstehen gegeben: Für Europa kommt es doch nicht darauf an, wer da Abgeordneter wird. Mit dieser Botschaft aus Karlsruhe tobt nun paradoxerweise ein erbitterter Streit, wer was wird, weil er mit seiner Parteienfamilie gewonnen oder verloren hat. Einer von Voßkuhles Leuten kam aus der Politik. Der frühere Ministerpräsident Peter Müller. Er war dagegen.

Zum Festakt aus Anlass des zehnjährigen Bestehens dieses Gerichts hatte Heinrich Krone in sein Tagebuch geschrieben: „Das Recht wurde gefeiert ... Die Politik kam zu kurz, noch deutlicher (gesagt) die Legislative. Sie hat ihre höhere Instanz im Karlsruher Gericht. Das liegt aber im deutschen Wesen, das den Richter ehrt, aber nicht den Politiker.“

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