Ein Intellektueller, der weit mehr eine Geschichte als einen Status verkörpert: Das war Walter Jens, der jetzt, 90 Jahre alt, nach langer Krankheit in Tübingen verstorben ist. Über mehr als 50 Jahre hin gibt es kein wichtiges Datum in der deutschen Geschichte, das nicht mit seinem Namen verbunden wäre. Und zu jeder Zeit wurde er damit wahrgenommen, verehrt, verteufelt, respektiert.
Der in Hamburg geborene Sohn eines Bankdirektors – ein Asthmaleiden begleitete seine Jugend und ersparte ihm den Kriegsdienst – wurde erzogen in den heiligsten Hallen deutscher Gelehrsamkeit: in der Klassischen Philologie, zuerst am Hamburger Johanneum, dann in seiner Geburtsstadt und in Freiburg: bei dem Gräzisten Bruni Snell, bei dem Latinisten Karl Büchner, bei dem Phi
ei dem Philosophen Martin Heidegger – all das in den Kriegsjahren.Die Universität Tübingen, der er dann zeit seines Lebens treu blieb, sah ihn als jungen Gelehrten und ambitionierten Schriftsteller. Der Roman Nein. Die Welt des Angeklagten machte ihn bekannt. Größere Bekanntheit errang er durch seine weithin beachtete Mitgliedschaft in der Gruppe 47. Mit seinem Buch Statt einer Literaturgeschichte wurde er zur geheimen Pflichtlektüre für Germanisten. Als „Momos“ veröffentlichte er seit 1963 Fernsehkritiken in der Zeit. Das alles absolvierte er ungewöhnlich glanzvoll, sodass er bald als Redner begehrt wurde.Präsident des PEN-ZentrumsDen Höhepunkt dieser Karriere erreichte er vielleicht mit seiner Rede zum 100. Jubiläum des Deutschen Fußballbundes; Jens war Fan seit Kindestagen. Aber es war nicht die Begabung für glanzvolle Sprachakrobatik allein, die das Glück des Redners Jens machte. Es war die Wirksamkeit seiner Überzeugung, dass gelingende Politik untrennbar mit der Macht des Wortes verbunden ist. Wenn, wie er bei den Griechen aus Athens Blütezeit hatte lernen können, Politik im Ausgleich der Interessen gleichberechtigter Bürger besteht, dann ist es die Macht der Rede, die solchen Ausgleich herbeiführt. Darum schätzten die Alten die Kunst der Rhetorik so hoch. Die Universität Tübingen richtete für Jens einen Lehrstuhl für Rhetorik ein, zum Staunen vieler im Rest der Republik.Aber da endete das Engagement des politisch nach links tendierenden Homme de lettres keineswegs. Als in den Proteststürmen gegen die Nachrüstung Anfang der achtziger Jahre die Friedensbewegung zu Blockaden von Raketenstandorten aufrief, beteiligte sich auch Jens im schwäbischen Mutlangen an derartigen Aktionen. Das gefiel nicht jedem, aber hier zeigte sich ein weiteres Wesensmerkmal der Persönlichkeit dieses vielbeschäftigten Mannes. Er verstand sich sehr entschieden als protestantischer Christ und wusste, dass auch die stärksten Worte wenig wert sind ohne die begleitende Tat. Und diese darf eben nicht nur in viel fordernder Geschäftigkeit bestehen, darunter zwei Mal als Präsident des PEN-Zentrums West und schließlich als Präsident der Akademie der Künste in Berlin von 1989 bis 1997. Hier deuten noch mehr als bei anderem die Jahreszahlen auf das Besondere seiner Leistung. Bei den Leuten, mit denen Walter Jens es da zu tun hatte, konnte von Wiedervereinigung keine Rede sein. Es gab im Westen Stimmen, die gerade jetzt die Akademie Ost strikt ablehnten, und es gab im Osten Intellektuelle, die mit etlichen Köpfen aus der Akademie Ost nichts mehr zu tun haben wollten.Christliche PrägungEs bedurfte neben dem Wort und der Tat einer aus der Antike wohlbekannten dritten Kraft, um hier das Vereinigungswerk zustande zu bringen: der Autorität. Jens, der in der Westberliner Akademie der Künste einst einen bewegenden Nachruf auf Martin Heidegger gesprochen hatte, wollte und konnte den Schriftstellern und Künstlern aus der untergehenden DDR die Hand reichen. Und er setzte seine Politik durch. Es wäre der SPD gut bekommen, wenn sie sich seinerzeit gegenüber der Masse der SED-Mitglieder zu ähnlicher Haltung hätte durchringen können.Jens selber hatte ja gegen Missverständnisse aus lang zurückliegender Zeit anzukämpfen gehabt. Als Schüler hatte er der Hitlerjugend angehört. Dass er seit 1942 als NSDAP-Mitglied geführt wurde, geschah wahrscheinlich ohne seine Kenntnis. Je älter Jens wurde, umso mehr rückte seine christliche Prägung ins Zentrum seiner Interessen. Mit dem Tübinger Kollegen Hans Küng war er eng befreundet. Die fleißige Übersetzungstätigkeit der späten Jahre gilt der christlichen Literatur, Paulus und den Evangelien. Aber all das blieb verbunden mit einem Bekenntnis zu den Zielen der Linken in Deutschland und, gleichsam die Klammer für beides bildend, mit einem wirklich freien, aufklärerischen Geist. Man muss Jens und Loriot hören, wie sie den Briefwechsel zwischen Voltaire und Friedrich dem Großen lesen: zwei radikale Freigeister, die das Leben kannten, der eine als Kriegsherr, der andere als Geschäftsmann.Dass ausgerechnet die Demenz-Krankheit diesen Mann schlug und in jahrelanges Leiden stieß, ist von besonderer Tragik. Davon hat ihn der Tod am 8. Juni erlöst.