Wenn Physiker aus sich herausgehen, wird es spröde: Reiner Haseloff
Foto: Christian Thiel/Imago
Unser Dorf soll schöner werden, hatte sich die CDU in Sachsen-Anhalt wohl gedacht und zum Wahlkampfauftakt ins Magdeburger Maritim-Hotel die Gruppe „ABBA da capo“ geladen. Die vier jungen Menschen begannen ihren Auftritt mit dem Lied „Waterloo“. Man könnte das für ein böses Omen halten.
Angela Merkel war eingeladen und sie kam zusammen mit dem Ministerpräsidenten Reiner Haseloff, der am 13. März gewinnen, aber auch verlieren kann. Im „Land der Frühaufsteher“, wie es auch die Kanzlerin respektvoll nannte, weiß man das nicht so genau. Der Begrüßungsapplaus war von Sympathie, aber nicht von Begeisterung bestimmt. Die Sympathie wuchs mit jeder Beifallsbekundung während der Rede Merkels. So etwas wie Begei
wie Begeisterung wurde erst laut, als sie am Ende zum Wahlsieg in Sachsen-Anhalt aufrief.Wenn Physiker aus sich herausgehen, empfinden Laien das gemeinhin als spröde. Und so war es auch, als Doktor Haseloff in seiner Rede – „sie wird 25 Minuten lang dauern“, wie er gleich sagte – mit dem Nachweis der Gravitationswellen begann. Damit das gelingen konnte, führte er aus, musste man an zwei Orten arbeiten, jeder für sich und doch zusammen in Louisiana und Washington. Die Arbeit an beiden Orten war wichtig für das Ergebnis. Auf diese Weise taktvoll hatte der Ministerpräsident auf die Tatsache angespielt, dass demnächst Bayerns Regierungschef Horst Seehofer bei den Frühaufstehern Wahlkampf machen wird. Ob für den 13. März oder für die eigenen Auffassungen zum Flüchtlingsthema, das wird man sehen. Haseloff nahm jedenfalls in seiner Ansprache auch das Wort „Obergrenze“ für den Zuzug nach Deutschland in den Mund, ein Punkt, in dem er mit Seehofer übereinstimmt.Die Kanzlerin ließ sich nicht lumpen. Auch Frau Dr. Merkel begann ihren Vortrag mit einer Ausdeutung des Nachweises der Gravitationswellen. Seit Albert Einstein sie postuliert hatte, vor hundert Jahren, galt für Generationen die Überzeugung, ein solcher Nachweis werde nicht gelingen. Auch Einstein selbst dachte so. Aber dann gab es doch Leute, die es versuchten, die nie aufgaben. Und die schafften es. Das war elegant gekontert. Der Saal war zufrieden.Der Saal wollte aber auch zufrieden sein, denn von jedem Überschwang der Stimmung war man ebenso weit entfernt wie von irgendeinem Gegrummel wegen der Politik in Berlin. Der Saal war gut gefüllt, aber nicht voll besetzt. Wenn Haseloff meinte, tausend Anwesende begrüßen zu dürfen, so hatte er sich verzählt. Der Saal fasst 800 Besucher, und die hintersten Stuhlreihen, etwa zehn, waren schütter bis gar nicht besetzt. 700 Wahlkämpfer aus allen Mandats- und Funktionsebenen mag die CDU an diesem Vormittag in Magedeburg versammelt haben. Und die kamen nicht nur aus Sachsen-Anhalt.Die Organisation hatte es in sich. Zum Besuch der Kanzlerin hatte es Einladungskarten gegeben. Der Einlass in den Saal erfolgte nach Abgleichen der Namen mit langen Listen. Das alles wurde mit großer Gelassenheit hingenommen. Bei den Besuchern dominierten die Altersgruppen zwischen zwanzig und dreißig einserseits, über sechzig andererseits. Viele Einladungskarten waren mit einem roten Punkt versehen. Ihre Inhaber durften in einem recht großen, abgetrennten und bewachten vorderen Bereich des Saales Platz nehmen. Für die anderen war dahinter reichlich Platz. Die Vorderen waren durchweg ein wenig besser gekleidet als die anderen.Wohin wandern Wähler?Im Foyer mischten sich die Gruppen. Man unterhielt sich ein, zwei Stunden lang angeregt, bis um neun Uhr der Saal geöffnet wurde. Auch da gab es kein Gedränge. Wer eben im Gespräch war, blieb dabei. Doch plötzlich fiel auf, dass in einigen Sesseln junge Männer in Trainingsanzügen saßen, darunter auch Afrikaner, aus Köln. Aber das waren Fußballspieler der Drittligamannschaft, der Fortuna, die am Nachmittag gegen den FC Magdeburg antreten mussten. Auch Frühaufsteher, sie, die bald in ihren Bus stiegen und zu einem leichten Lauftraining entschwanden.Es war nicht das Flüchtlingsthema mit seinen Begleiterscheinungen, das den Wahlkampfauftakt in Magdeburg bestimmte. Es war die Landespolitik, auf deren Erfolge Haseloff mit zäher Geduld hinwies, und die Hoffnung darauf, dass es mit diesen Erfolgen unter CDU-Führung in Zukunft weitergehen möge. Diese Hoffnung wohl veranlasste die Wahlkämpfer, die SPD überaus schonend zu behandeln. Mehr noch, es gab den ausdrücklichen Hinweis, dass hier die CDU mit ihrem sozialdemokratischen Koalitionspartner durchweg fair umgehe, wohingegen die Linkspartei die SPD in Thüringen, das von einer rot-rot-grünen Koalition regiert wird, zum Erbarmen schlecht behandele.Offensichtlich hat die CDU in Sachsen-Anhalt im Moment Angst um ihre SPD. Sollte sie bei der Landtagswahl absacken wie anderswo schon geschehen, könnte es knapp werden für die einstweilen noch Große Koalition. Der Oberbürgermeister von Magdeburg hatte die SPD vor einigen Wochen verlassen, weil die Landesvorsitzende ihm angeblich vorschreiben wollte, mit welchen Worten er über die Schwierigkeiten reden dürfe, die sich für die Stadt aus dem Zuzug von Flüchtlingen ergäben. Am Tag des Kanzlerinnenbesuchs in der Stadt meldete die Volksstimme, die örtliche Zeitung seit 1890, zwar nicht den Besuch, wohl aber die Tatsache, dass zwei Stadträte die Linksfraktion verlassen hätten, unter anderem weil sie dort linksextreme Tendenzen sahen.Welche Wählerwanderungen es am 13. März geben könnte, war eines der Gesprächsthemen an den Stehtischen im Foyer des Maritim-Hotels. Nichts Gewisses weiß man nicht. Dass die Linkspartei an die AfD abgeben wird, gilt vielen als ausgemacht. Von der SPD wünscht man sich in der CDU, dass es sie nur in geringem Umfang treffen möge. Und die Union selbst? Da druckst man herum. Man weiß es nicht, man hat keine zuverlässigen Anhaltspunkte. Man ist sich einig, dass die Landespolitik kaum Gründe geschaffen habe, der CDU den Rücken zu kehren. Aber das sagen eben CDU-Leute. Man fürchtet jedoch, dass die Berliner Politik – Stichworte: Flüchtlinge, Obergrenze, Zwist in der Union – eine unbekannte und nicht abschätzbare Zahl von Wählern veranlassen könnte, entweder nicht zur Wahl zu gehen oder vielleicht doch die AfD zu wählen.Diese Partei wird in den Reden von Merkel und Haseloff nicht beim Namen genannt. Man spricht dann mit Abscheu und warnendem Tremolo von „den Rechten“, tut dies aber im selben Atemzug mit der Warnung vor „den Linken“. Immer dann äußern sich die siebenhundert Menschen im Saal mit entspannter Zustimmung.Nur einmal rutscht Angela Merkel dabei ein wenig aus. Nach einer Aufzählung dessen, was in Sachsen-Anhalt alles zu leisten ist, ruft sie aus: „Das können die Roten doch gar nicht.“ Dann fällt ihr ein, dass mit „den Roten“ immer noch die SPD mitgemeint sein könnte und setzt schnell mit begütigendem Lächeln hinzu: „Aber ich will hier nicht unhöflich sein gegenüber anderen Parteien.“ Und freut sich, dass sie das noch einmal hingekriegt hat.Die CDU-Leute im Saal sind zufrieden mit ihrer Kanzlerin. Das zeigt sich nicht nur im Fehlen jedes Zeichens einer ablehnenden Haltung oder Stimmung. Das ist mehr noch spürbar in dem breiten Selbstbewusstsein, das die dort Lauschenden ausstrahlen. Der Auftritt der Kanzlerin im Osten ein Risiko? Ein Risiko auch und gerade bei der CDU dort selbst? Nichts davon ist zu sehen. Aber zu bedenken ist ebenfalls: Vor einer Volkswahl ist man in der CDU nicht so blöd, die eigenen Spitzenleute schlecht aussehen zu lassen. Nach einer verlorenen Wahl und selbst nach einer gewonnenen Wahl kann das wieder ganz anders aussehen.Einstweilen jedoch wissen die Mandats- und Funktionsträger der CDU, was sie der Kanzlerin und was sie dem Ministerpräsidenten schulden. Das ging in Magdeburg bis zur Formulierung des Wahlkampfslogans, der mächtig über dem Podium prangte: „Keine Zeit für Experimente“. Das war sorgfältig erwogen. Zu Adenauers Zeiten lautete der damals immens erfolgreiche Slogan: „Keine Experimente“. Aber das konnte man der Physikerin Merkel und dem Physiker Haseloff nicht zumuten. Ohne Experimente kommen Physiker nicht weiter, und die Gravitationswellen wären immer noch nicht nachgewiesen.Droht der CDU in Sachsen-Anhalt ein Waterloo, woran der Auftritt von ABBA da capo denken ließ? Nun, das Lied wurde angekündigt mit der Bemerkung, dass die originale, die schwedische Gruppe damit 1974 den European Song Contest gewonnen habe. Was für ein Sieg! Wer kennt schon noch Napoleon.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.