Als Hans Dieter Schütt, heute Redakteur des Neuen Deutschland, kürzlich sein Buch über Regine Hildebrandt in Berlin auf einer Pressekonferenz vorstellte, sagte er, dass die Machthaber der DDR das große Talent dieser Frau nicht nur nicht zu würdigen gewusst hätten, sondern dieses Talent sogar fürchteten. Der Autor, in der DDR Chefredakteur der Tageszeitung Junge Welt, reihte sich selbst ein in die Riege dieser Machthaber. Vielleicht ist es dem daraus resultierenden selbstkritischen Blick zu verdanken, dass die Biografie einer ungewöhnlich demokratisch gesinnten Frau - die nach 1989 nicht nur zur beliebtesten Politikerin in Ostdeutschland avancierte, sondern die bereits in der DDR als promovierte Biologin im VEB Berlin-Chemie für das "reinste Insulin im Ostblock" und für "klärende Gespräche" im Kollegium sorgte -, vortrefflich die Aura einer Frau zu reproduzieren versteht, die jeden Tag, an dem sie nicht etwas Sinnvolles für andere Menschen und für die Familie in Bewegung gesetzt hatte, als einen verlorenen Tag bezeichnete.
Diese Frau passte mit ihrer Offenheit und Ehrlichkeit so gar nicht in das Bild einer politischen Klasse, für die Taktik und Sachlichkeit über das menschlich soziale Gelingen unseres Lebens dominieren müssen, wenn "vernünftige" Politik denn gelingen wolle. Für Regine Hildebrandt war Demokratie nicht eine Floskel zur Tarnung von Karrierismus und Egoismus. Sie lebte Demokratie nicht repräsentativ, sondern stritt für direkte Demokratie. Bei ihren Widersachern, besonders in der CDU, wurde das überhaupt nicht geschätzt. "Meine Kraft kriege ich daher, dass ich im Lande unterwegs bin. Ich seh´ doch, was hier los ist, und ich weiß es nur, weil ich bei den Leuten bin. Und nicht dadurch, dass ich Königinnen empfange."
Sie kämpfte Ende Mai 1993 mit allen Mitteln gegen das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, das die Fristenlösung für Frauen verwarf, die aus Not abtreiben wollen. Sie nannte dieses Urteil einen "Rückfall ins Mittelalter". In diesem Punkt, stellte sie, über sich selbst verwundert, fest, stand ihr die DDR viel näher. Sie wurde auch in vielen anderen Punkten des Lebens mehr und mehr von der implantierten Demokratie West enttäuscht, hatte sie doch gehofft, endlich sei die staatliche Manipulation des Volkes beendet. Geändert hatten sich die Formen der Manipulation. Aber der "Markt ist mächtiger als ein Kanzler" geworden, schreibt Schütt, der für dieses Buch viele Dokumente sichtete und mit nahezu allen Mitgliedern der Familie Hildebrandt intensive Gespräche geführt hatte.
Einer der Widersacher Regine Hildebrandts in der CDU, der stets so repräsentativ wirkende Wolfgang Schäuble, nannte diese Frau, die ihr Herz auf der Zunge trug, "unerträglich". Auch Angela Merkel erzürnte sich über die so wenig repräsentativ wirkende Entschlossenheit der Sozialministerin des Landes Brandenburg, die 1993 die Neuauflage der DDR-"Montagsdemonstrationen" forderte, und zwar vor Brandenburgs Arbeitsämtern, um gegen die Einsparungen bei Fortbildungs- und Umschulungsprogrammen zu protestieren. Die damalige Bundesfrauenministerin Merkel nannte diesen Aufruf einen "Skandal".
Hildebrandt jammerte zu DDR-Zeiten nicht. Sondern bemühte sich auch hinter dem Todesstreifen, trotz staatlicher Reglementierungen, demokratisch, auch getragen von christlicher Ethik, zu denken und zu handeln, ohne Mitglied in einer Partei zu sein. Durch ihren klaren Kurs erreichte sie, dass keines ihrer Kinder am obligatorischen Wehrkundeunterricht in der Schule teilnehmen musste. Sie blieb als Ministerin des Landes Brandenburg die einfache "Köchin" im Sinne Lenins, die den Staat mitlenken wollte, ohne allerdings zu ahnen, auf welch widerspenstigen Apparat sie sich da eingelassen hatte.
Solche Frauen passen nicht in die Marketinggepflogenheiten eines Parlamentarismus, in dem sich repräsentative Volksvertreter oft mehr an ihre Beraterverträge und Aufsichtsratsposten gebunden fühlen, als an ihre Wählerschaft. Hildebrandt wurde daher mit unsauberen, aber auch sachlich oder ganz rechtsstaatlich vorgetragenen Behauptungen bombardiert, um sie aus ihrem Amt zu jagen. Dazu bot sie ihren Widersacher auch viele Gelegenheiten. Als sich die SPD 1999 weigerte, eine Koalition mit der PDS einzugehen, was die Sozialministerin Hildebrandt forderte, trat sie von ihrem Amt zurück, denn eine Koalition mit den "Arschlöchern" der CDU des Ex-Militärs der Bundeswehr, Jörg Schönbohm, war ihr unerträglich. "Taktisches Vorgehen zum Erzielen eines erfolgversprechenden Effektes ist mir in der Seele zuwider."
So eine, die ihre Zunge nicht im Zaum zu halten vermag, hat in einem Land, in dem sich in allen Institutionen, Betrieben, Schulen und Hochschulen immer deutlicher alles um dieses taktische Vorgehen dreht, wirklich wenig in einer Regierung zu suchen. Bis zu ihrem Todestag, den 26. November 2001, den sie bewusst kommen sah, lebte diese Frau so aktiv wie immer. Noch im Oktober war ihr Terminkalender prall gefüllt. Von "Hospizeinweihung in Frankfurt/Oder" bis zu einem "TV Termin mit Dorothee Sölle" bei dem über Sterbehilfe gesprochen wurde. Sie lebte, ohne sich vom baldigen Tod bannen zu lassen.
Hildebrandt war eine, die sich darüber aufregen konnte, dass Mitglieder der SPD in teuren Hotels Quartier beziehen, wenn sie zu Konferenzen oder Wahlkundgebungen reisen, statt bei jenen Herberge zu suchen, die sie als Wähler umwerben wollen. Die spinnt doch, werden die erlauchten Herrschaften der SPD lachend gefeixt haben. Belächelt haben sie diese Frau, die einen Traum von Menschlichkeit verwirklichen wollte. Sie nahm das große "S" im Namen ihrer Partei noch ernst.
Hans-Dieter Schütt: Regine Hildebrandt. Ich seh doch, was hier los ist. Gustav Kiepenheuer, Berlin 2005, 342 S., 19,90 EUR
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