Die Illusion des Einfachen

Marketingcharaktere An dem Bestseller "Simplify your life" lässt sich die erstaunliche Karriere eines Ratgebers studieren

"Simplify your life" hinter diesem Schlachtruf sammeln sich immer mehr Menschen in den USA und in Europa. In Deutschland veröffentlicht der "Verlag für die Deutsche Wirtschaft AG" die Zeitschrift Simplify your life, die Ratschläge zur Vereinfachung des Lebens vermitteln möchte. "Vereinfachen sie Weihnachten!" "Entkrampfen sie ihre Beerdigung!" "Vereinfachen Sie sich selbst!", so sind Artikel überschrieben, die neugierig machen sollen. Der Chefredakteur Werner Tiki Küstenmacher, ein praktisch denkender Theologe, landete schnell mit seinem Buch Simplify your life in den deutschen Bestsellerlisten und tingelt durch die gefüllten Konferenzarenen des modernen Managements. Seine Tipps: "Versuchen Sie nicht, zwei Dinge gleichzeitig zu machen, konzentrieren sie sich auf eine Sache." Und: "Wenn man erst mal seinen Schreibtisch im Griff hat, bekommt man erfahrungsgemäß sein ganzes Leben besser in den Griff." "Pflegen sie das Zwiegespräch, bei dem man sich nach gewissen Regeln abwechselnd gegenseitig etwas über sich erzählt."

Das hört sich offensichtlich so überzeugend an, dass sich viele, die in ihren menschlichen Beziehungen und in ihren täglichen Arbeitsabläufen vor großen Hindernissen stehen, die Simplify-Tipps unter ihr Kopfkissen schieben. Die vielen Ratschläge stützen sich auf eine Philosophie, die der schwedische Adelige und langjährige UN-Vorsitzende Dag Hammarskjöld (1905-1961) formuliert hatte. "Einfachheit heißt", schrieb er, "die Wirklichkeit nicht in Beziehung zu uns zu erleben, sondern in ihrer heiligen Unabhängigkeit. Einfachheit heißt sehen, urteilen und handeln von dem Punkt her, in dem wir in uns selbst ruhen. Wie vieles fällt da weg! Und wie fällt alles andere in die rechte Lage!" Der einzelne Mensch wird hier von seinen wirklichen Lebensinhalten getrennt. Die Folge ist eine dualistische Psychologie. Sie trennt den einzelnen Menschen von seinen gesellschaftlichen Wurzeln. Der Mensch wird als Subjekt, als Schöpfer der eigenen Geschichte negiert. "Werden Sie offen!" fordert Simplify, "Geben Sie alles, was Sie in Ihrem Inneren belastet, nach draußen ab, Schuldgefühle, Vorwürfe, Zorn, Angst".

Was sich so menschenfreundlich anhört, ist tatsächlich aber eine Isolierung des Einzelnen vom allgemein Menschlichen. Wie sagte Goethe: "Nichts ist drinnen, nichts ist draußen. Denn was Innen, das ist außen". Der einzelne Mensch ist, ob er will oder nicht, stets gesellschaftlich, also an abstrakt menschliche Ziele, gebunden, zu denen er sich so oder so in Beziehung setzen muss. Jede Erkenntnis geht von Empfindungen und Wahrnehmungen einzelner Menschen aus. Sicher ist es höchste Zeit, die Sinnlichkeit wieder in ihr Recht zu setzen. Doch das will Simplify ja gar nicht. Der chaotisch erscheinende Schreibtisch oder die sprachlose Beziehung zwischen zwei Menschen lösen Empfindungen in uns aus, die wir als leidvolle wahrnehmen. Doch jede tiefere Erkenntnis unseres täglichen Lebens geht von diesem sinnlichen Fühlen zum abstrakten Denken. Die Notwendigkeit dieses Übergangs zum Abstrakten beruht darauf, dass es unmöglich ist, die Aufgaben der Erkenntnis vollständig zu lösen, wenn man nur in der Sphäre des Psychischen, also des Einzelnen, bleibt. Erst der Übergang zum Denken ermöglicht die Erkenntnis des Wesentlichen.

Der Erkenntnisprozess beginnt in der Sphäre des Sinnlichen (der Empfindung folgt die Wahrnehmung), ohne diese je zu verlassen. Er kann sich aber nicht auf diese Sphäre beschränken. Wir müssen abstrahieren, um erkennen zu können. Abstrahieren heißt ja nicht nur, von etwas absehen, den chaotischen Schreibtisch oder die sprachlose Beziehung zu vergessen. Abstrahieren hat nicht nur diesen negativen, sondern auch einen positiven Aspekt; abstrahieren heißt, etwas von irgend etwas unterscheiden, es hervorheben. Die wesentlichen, eigentlichen, inneren Eigenschaften des Gegenstandes oder Objektes aufzudecken, ist das natürliche Ziel der Erkenntnis. Indem die Abstraktion aus den Erscheinungen das Wesentliche hervorhebt und vom Unwesentlichen absieht, lässt sich der tiefere Hintergrund des sinnlich gespürten erst ergründen.

Simplify verhindert, dass Menschen, die mit ihrem Leben unzufrieden sind, mit der Analyse ihres Alltags beginnen. Persönlichkeit kann sich nur auf dem Weg der Analyse und Synthese entwickeln. Die Synthese geht mit der gedanklichen Analyse einher. Sie führt zur Veränderung der persönlichen Handlungen und des Verhaltens, mündet also wieder im einfachen und sinnlichen Leben. Simplify produziert dagegen Formalisten oder, wie Erich Fromm sagen würde, "Marketingcharaktere". Diese fragen nicht, ob die Erscheinungen des Chaotischen und Sprachlosen vielleicht etwas mit der Gestaltung der menschlichen Beziehungen zu tun haben könnten, die sich in den vielen Papierbergen des Schreibtisches verbergen. Vor diesen Papierbergen hockt vielleicht ein Familienvater, der täglich damit beschäftigt ist Angebote für T-Shirts einzuholen und Aufträge an jene zu vergeben, die nur deshalb die preiswertesten sind, weil sie durch Kinderhände entstehen, deren Familien im absoluten Elend leben.

Formalisten nehmen diesen direkten Bezug von Schreibtisch und menschlicher Wirklichkeit nicht zur Kenntnis. Sie abstrahieren nicht. Sie bleiben zum Schein unverrückbar einfach und immer locker. Für sie entsteht Persönlichkeit vielmehr dann, wenn der Schreibtisch sauber ist und die Papiere in der Hängeregistratur baumeln. Oder wenn das taktvolle, strukturierte, aber einfache Gespräch mit schwierigen Partnern beim netten Rotwein endet. Kommunikation setzt Simplify mit Denken gleich. Dabei ist die sprachliche Kommunikation lediglich der Austausch von Gedanken. Ob diese formalistisch sind oder ob sie das Denken als Mittel zur Erkenntnis unseres Lebens in sprachliche Hülle prägen möchten, ist nicht die besondere Spezifikation der Kommunikation, sondern liegt im Motiv begründet, das die Menschen zum Gespräch animiert. "Werden Sie ein Meister des Gesprächs", fordert Simplify. "Versuchen Sie, mitten im Gelärm das innere Schweigen zu bewahren." Die Kommunikation wird so zur taktischen Waffe gegenüber anderen Menschen, die die Raffinesse der formalistischen Kommunikation nicht beherrschen. So kann durch "die Macht des Schweigens" der Gesprächspartner in die Defensive gedrängt werden, um ihm zum gegebenen Zeitpunkt den Auftragsblock mit Kugelschreiber zur Unterschrift vorlegen zu können. Ganz locker, ganz entkrampft, ganz einfach eben. Wer in Gesprächen schweigt und aufmerksam die Gedanken des Anderen sammelt, erfährt viel von dessen Schwachstellen und kann diese geschickt, freundlich, eben alles ganz einfach, ausnutzen.

Das physiologische System des Menschen kann durch eine Thrombose, die oft nur aus einer kleinen Verklumpung von Thrombozyten besteht, zum Zusammenbruch kommen. Eine Lungenembolie kann die Folge sein. Das geschwollene Bein des Patienten ist für den erfahrenen Arzt ein wichtiger Hinweis auf diese Gefahr. Der unkundige Patient führt dagegen die Ursache des schmerzenden Beines auf eine äußere Verletzung, einen Stoß zurück, nicht aber auf einen Defekt im physiologischen System. Die richtige Diagnose des Arztes setzt die Kenntnis der möglichen Gefährdungen des gesamten physiologischen Systems voraus. Der Arzt muss also über allgemeine Kenntnis des physiologischen Systems verfügen, um eine ganz einfache Diagnose stellen zu können. Das Abstrakte ist der Schlüssel zum Konkreten. Das Abstrakte ist der Begriff, der sich aus der Analyse vieler konkreter Prozesse und chemischer Substanzen gebildet hat. Zum Einfachen gehört ganz offensichtlich das Nichteinfache, das Abstrakte.

Wenn das Abstrakte und Allgemeine negiert wird, wie in der Simplify-Bewegung, wird die Erkenntnis des Sinnlichen nicht möglich sein. Wer einen Wald beschreiben will, wird mit der Aufzählung konkreter Bäume und Baumarten beginnen. Nur in dieser Verbindung von Konkretem und Abstraktem erlangen wir eine Vorstellung über die Beschaffenheit des Waldes. Doch nicht nur unsere Vorstellung ist eine andere, wenn wir hören, der Harz sei ein reiner Nadelwald, sondern auch unsere wissenschaftliche Erkenntnis zieht aus dieser konkreten Aussage, abstrakte Schlussfolgerungen in Beziehung auf unser ökologisches System. Der Nadelwald übersäuert den Waldboden, was zu ungünstigen Bedingungen unserer Trinkgewässer führt.

Selbst die Sehnsucht nach Liebe, kann nicht nur durch Sinnlichkeit gedeihen. Die Liebe zwischen den Menschen kann natürlich ohne Sinnlichkeit nicht entstehen. Die Liebe ist der Gipfel sinnlicher Einheit. Letztlich ist es ja gerade diese Einfachheit der Liebe, die uns Menschen glücklich macht. Wir lieben einen konkreten Menschen, weil wir uns mit seinem Wesen, das sich durch Sinnlichkeit und Sprache offenbart, in Einklang glauben. Dieses Wesen ist aber durch abstraktes Denken, durch ständige Analysen und Synthesen im konkreten Alltag entstanden. Liebesfähigkeit entsteht mit diesen Synthesen oder Schlussfolgerungen, die uns für tägliche Handlungen das Motiv verleihen.

Das Gesellschaftliche wird bei Simplify vom Einfachen getrennt. Der Einzelne wird reduziert auf sich selbst. Auf Disziplin, Atem, Fitness, Wohlstand und ein Glück zu zweit. Hinter der Sehnsucht nach dem einfachen Leben verbirgt sich aber der Wunsch nach klaren menschlichen Lebenszielen. Dass diese Sehnsucht manipulierbar ist, zeigt, dass sie nicht einfach zu haben ist. Denken, um sinnlicher leben zu können, ist gefordert.

Werner Küstenmacher, Lothar J. Seifert: Einfacher und glücklicher leben. Die sieben Wege zu einem Leben ohne Ballast. Campus, Frankfurt am Main, New York 2003,
355 S., 19,90 EUR

Jürgen Meier ist freier Publizist und Dokumentarfilmer. Zuletzt erschien von ihm 2002 der Band Fortunas Kinder - Eine kleine Geschichte des Glücks im Berliner Aufbau Verlag.


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