Multikulti wurde viel zu früh für tot erklärt. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Deutschland erlebt eine neue Welle der Einwanderung aus Europa, die die Vision von einem europäischen Deutschland Wirklichkeit werden lassen könnte. 2012 sind fast 1.000.000 Personen neu nach Deutschland gekommen. Die Zahl der Einwanderer aus Spanien, Italien, Griechenland und Portugal ist um mehr als 40 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Aber im Gegensatz zu der letzten großen Einwanderungswelle in den sechziger Jahren handelt es sich nicht um billige Arbeitskräfte für die Fließbänder der Industrie, sondern um überwiegend gut ausgebildete Menschen. Fast die Hälfte dieser neuen Zuwanderer verfügt über einen Hochschulabschluss. Es
Es ist eine Migration der Bürgerlichen.Es wird heftig darüber diskutiert, wie dieser Trend zu verstehen ist. Viele Ökonomen weisen entweder auf die hohe Nachfrage nach gut ausgebildeten Arbeitskräften in Deutschland hin. Oder sie schreiben diese Entwicklung der europäischen Freizügigkeit zu. Europa werde allmählich zu einem Währungsraum, in dem das Angebot an Arbeit sich dorthin bewegt, wo Nachfrage besteht. Andere Experten weisen auf die großen Probleme hin, die die Einwanderung für viele Kommunen bedeutet, sowie die möglichen negativen Effekte für Löhne und Gehälter. Keine dieser Positionen wird der Bedeutung der neuen bürgerlichen Immigration auch nur annähernd gerecht.Denn für Deutschland bietet sich die große Chance, endlich die Angst zu überwinden, Immigration gehe notwendigerweise mit Sozialtourismus und fortdauernder Fremdheit Hand in Hand. In der Vergangenheit wurden Migranten von vielen Deutschen als Gastarbeiter oder geduldete Flüchtlinge behandelt, nicht aber als Mitbürger willkommen geheißen. Mangelnde Integration und letztlich die Entstehung von Parallelgesellschaften waren die Folge. Kanada, Neuseeland, Australien, Singapur und die USA sind sicherlich keine integrationspolitischen Schmelztiegel; sie zeigen aber, dass alle von Multikulti profitieren können.Diese Länder verdanken ihre wirtschaftliche Dynamik und ihren Wohlstand nicht zuletzt ihrer gesellschaftspolitischen Offenheit und der Integration von Millionen von gut ausgebildeten Arbeitskräften aus der ganzen Welt. Deutschland kann heute beweisen, dass es ebenfalls Einwanderung kann. Mehr noch: Die Immigration der Bürgerlichen bietet uns die Chance, alte Vorurteile zu überwinden und gesellschaftspolitisch endlich im 21. Jahrhundert anzukommen.Wenn unser Land sich für Europa und seine Bürger öffnet, dann wird diese Republik auch insgesamt europäischer sein. Das ist keine Kleinigkeit. Die Angst der Nachbarn vor einem deutschen Europa würde hinter der Hoffnung auf ein europäisches Deutschland zurücktreten.Wir haben die Verpflichtung, diese Chance wahrzunehmen. Denn die von Kanzlerin Angela Merkel betriebene Austeritätspolitik hat dazu geführt, dass die Arbeitslosigkeit in Ländern wie Griechenland oder Spanien das Niveau der Weimarer Republik erreicht oder sogar noch übertroffen hat. Eine ganze Generation von Jugendlichen droht für Europa verloren zu gehen. Freizügigkeit allein reicht als Antwort darauf schon lange nicht mehr aus. Nur allzu häufig steigen Menschen in Madrid oder Athen als Ingenieur, Arzt oder Architekt ins Flugzeug und beginnen in München oder Hamburg ein neues Leben als Putzkraft. Dieser brain waste ist das Ergebnis der fehlenden Bereitschaft, die Ausbildungsabschlüsse unserer Nachbarn genauso automatisch als gleichwertig anzuerkennen, wie es bereits seit langem bei Waren und Dienstleistungen aus der EU üblich ist. Aber die generelle „Anerkennung des Anderen“ scheitert in Deutschland noch immer daran, dass es hierzulande rund 600 bundesrechtlich geregelte Berufsgruppen gibt. Ganz zu schweigen von den ebenso umständlichen wie bürokratischen Verfahren für die Anerkennung der individuellen Abschlüsse.Die Immigration der Bürgerlichen birgt allerdings auch Gefahren. Für Menschen mit Asylstatus und für geduldete Flüchtlinge hat sie nicht nur wenig zu bieten. Mehr noch, sie könnte politisch dazu missbraucht werden, den Reformstau in der Arbeitsmarkt-, Ausbildungs- und Familienpolitik zu kompensieren. Das wäre fatal. Die Verfügbarkeit süd- und osteuropäischer Migranten darf nicht davon ablenken, dass es auch die Aufgabe der Politik ist, bessere Studiengänge anzubieten, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu befördern und für fair bezahlte Arbeitsplätze für niedrig Qualifizierte zu sorgen.Es besteht durchaus die Gefahr, dass die bürgerliche Immigration das Bürgertum zwar offener und bunter macht, aber gleichzeitig die sozialen Grenzen noch undurchdringlicher werden. Es geht also auch darum, die Offenheit der deutschen Gesellschaft voranzutreiben, ohne dabei die sozialpolitischen Herausforderungen aus den Augen zu verlieren. Wenn uns das gelingt, dann besteht die große Chance auf ein Deutschland, das in Europa angekommen ist. Deutschland, du hast die Chance zu Multikulti.