Das Grundgesetz normiert ... eine Bindung der Streitkräfte an die Grundrechte, nicht jedoch eine Bindung der Grundrechte an die Entscheidungen und Bedarfslagen der Streitkräfte." So lakonisch diese Formulierung des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig, so überwältigend ihre Wirkung auf der Bonner Hardthöhe und im Berliner Bendlerblock. Bis auf den heutigen Tag nämlich hat das höchstrichterliche Urteil vom Sommer 2005 den Offiziellen im Bundesverteidigungsministerium schlicht die Sprache verschlagen. Offenbar hatte niemand dort damit gerechnet, dass die Richter einen Stabsoffizier vom Vorwurf der Gehorsamsverweigerung - immerhin einer mit Gefängnis bedrohten Wehrstraftat - freisprechen. In seinem auf rund 130 Seiten sorgfältig begründeten Urteil hatte vor Jahresfrist der 2. Wehrdienstsenat dem angeschuldigten Major Florian Pfaff eine "an den Kategorien von Gut und Böse orientierte Gewissensentscheidung" bescheinigt, die von der "erforderlichen Ernsthaftigkeit, Tiefe und Unabdingbarkeit des für ihn ethisch Gebotenen geprägt" war, "so dass er dagegen nicht ohne ernste Gewissensnot handeln konnte."
Die heiligste Kuh geschlachtet
Die Bundesverwaltungsrichter hatten unbeeindruckt die Heiligste Kuh der deutschen Militärpolitik geschlachtet: den angeblich unantastbaren Primat der Politik. Letzterer - und das ist der springende Punkt des Leipziger Urteils - gilt freilich nur innerhalb der Grenzen von Recht und Gesetz, während jenseits davon der Primat des Gewissens herrscht. Dass sich dagegen in Kreisen der ministeriell bestallten Wehrjuristen weiter Widerspruch regt, mag schwerlich überraschen. So versieht der Ministerialrat im Verteidigungsministerium, Stefan Sohm, seine in der Neuen Zeitschrift für Wehrrecht publizierte Abhandlung zu diesem Thema prompt mit dem Titel Vom Primat der Politik zum Primat des Gewissens? Dass es sich bei der von ihm gewählten Frage um eine bloß rhetorische handelt, legt er dem Leser seines Lehrstücks juristischer Rabulistik unmissverständlich klar. Denn die "Verweigerungshaltung von Soldaten unter Berufung auf Grundrechte" steht - so der Autor - letztendlich "in einem Spannungsverhältnis zum demokratischen Prinzip und dem Primat der Politik in den Streitkräften". Der Ministerialjurist folgert daraus, dass mitnichten dem verfassungsrechtlich geschützten Grundrecht der Gewissensfreiheit der Vorrang gebührt, wie das Bundesverwaltungsgericht - seiner Meinung nach fälschlich - entschieden hat. Und beantwortet daher seine eingangs aufgeworfene Frage mit der apodiktischen Feststellung: "Beständig bleibt aus rechtlicher Sicht allein die Unterordnung der Streitkräfte unter den Primat demokratisch legitimierter Politik."
Eingeflossen sind diese Ressentiments aus dem Hause Jung gegen die Leipziger Richter darüber hinaus in ein ministerielles Informationspapier für Vorgesetzte. Dieses wird als sogenannte "G1-/A1-Information" zum Problem Gehorsamsverweigerung aus Gewissensgründen im Intranet der Bundeswehr verbreitet. Die Rechtsabteilung II 2 verdreht darin wesentliche Festlegungen, welche die Bundesverwaltungsrichter getroffen haben, in ihr Gegenteil. So heißt es wörtlich: "Wenn die Ausführung eines Befehls eine unzumutbare Gewissensbeeinträchtigung darstellt, hat der Vorgesetzte zu prüfen, ob der Dienstbetrieb eine gewissensschonende Alternative durch die Zuweisung einer anderen Aufgabe zulässt." Im Bundesverwaltungsgerichtsurteil indes ist glasklar festgelegt, dass ein Soldat unbedingten Anspruch darauf hat, von der öffentlichen Gewalt nicht daran gehindert zu werden, sich gemäß den ihn bindenden und unbedingt verpflichtenden Geboten seines Gewissens zu verhalten. "Diesem Anspruch" - so das Gericht - "ist dadurch Rechnung zu tragen, dass ihm eine gewissenschonende diskriminierungsfreie Handlungsalternative bereitgestellt wird, um einen ihn in seiner geistig-sittlichen Existenz als autonome Persönlichkeit treffenden Konflikt zwischen hoheitlichem Gebot und Gewissensgebot zu lösen."
Die Ministerialjuristen sehen das ganz anders, indem sie rechtsbeugerisch formulieren: "Wenn die Zuweisung einer anderen Aufgabe nicht möglich ist, hat der Vorgesetzte die dienstlichen Erfordernisse gegen die mögliche Gewissensbeeinträchtigung abzuwägen." Dabei hatten die Leipziger Richter in ihrem Urteil das genaue Gegenteil konstatiert, nämlich: "Es wäre ... verfassungsrechtlich verfehlt, zunächst von den Streitkräften oder ihrer jeweiligen politischen Führung definierte Bedarfs-, Effektivitäts- oder Funktionsanforderungen heranzuziehen und diese dann dem Grundrecht der Gewissensfreiheit gegenüber zu stellen und in einer Abwägung entgegen zu setzen." Und weiter, "namentlich dürfen die sich aus der Verfassung ergebenden strikten Bindungen an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG), an die allgemeinen Regeln des Völkerrechts (Art. 25 GG) und an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) nicht zur Seite geschoben und durch Abwägung in ihrem Geltungsgehalt und -anspruch gelockert werden, auch wenn dies politisch oder militärisch im Einzelfall unter Umständen zweckmäßig erscheinen mag." Unzweifelhaft setzt das Bundesverwaltungsgericht hiermit dem vielbeschworenen Primat der Politik, dem die militärische Macht im Staate unterworfen ist, klare verfassungsrechtliche Schranken. Ministerialrat Sohm freilich bestreitet das vehement, indem er deklamiert, dass "dienstlichen Aufgaben und Befehlen ... grundsätzlich die Dignität demokratischer Legitimation zu[kommt]."
Menschenwürde und Luftsicherheit
Wie prekär es indes um den Wert demokratischer Legitimation, vulgo parlamentarischer Mehrheitsentscheidungen, oftmals bestellt ist, demonstriert in regelmäßigen Abständen das Bundesverfassungsgericht. Ein besonders spektakuläres Beispiel liefert dessen jüngst ergangenes Urteil zum Luftsicherheitsgesetz. Darin bescheinigen die Verfassungsrichter Bundesregierung und Bundestag, dass ihr auf lupenrein demokratische Weise zustande gekommenes Gesetzeswerk die zentrale Verfassungsnorm schlechthin, nämlich die durch Artikel 1 des Grundgesetzes absolut geschützte Menschenwürde, mit Füßen tritt. Ein Waterloo für den angeblichen Primat demokratischer legitimierter Politik und ein grandioser Sieg für die Geltung des Rechts. Wer angesichts dessen unreflektiert von der "Dignität demokratischer Legitimation" schwadroniert, läuft Gefahr, im verfassungsrechtlichen Nirwana zu landen. Denn demokratisch formal korrekt legitimiert war eben auch die von der rot-grünen Bundesregierung beschlossene Unterstützung der anglo-amerikanischen Aggression im Irak, der sich Bundeswehroffizier Pfaff verweigert hatte. Und so strickt bis heute nicht nur Bundesjustizministerin Zypries (SPD) an der Legende, man wäre aufgrund der NATO-Bündnisverpflichtungen zum Bruch der Verfassung, die eigentlich den Angriffskrieg verbietet, gezwungen gewesen.
General und Gefreiter
Ministerialjurist Sohm ergänzt seine spitzfindigen Einwände gegen das Urteil von Leipzig um einen weiteren aufschlussreichen Aspekt. Seiner Auffassung nach besteht der "zentrale Problembereich im vorliegenden Fall in der Grundrechtsgeltung und -wahrnehmung in Sonderstatus-Verhältnissen". Diese Terminologie ist aus der Debatte um die Innere Führung in der Bundeswehr nur allzu bekannt. Den Traditionalisten zufolge, denen die Idee vom "Staatsbürger in Uniform" schon immer ein Dorn im Auge war, nimmt der Soldat eine Sonderstellung in der pluralistischen Gesellschaft ein, folglich seien den Zivilisierungsmöglichkeiten einer Armee Grenzen gesetzt. Genau auf dieser Linie argumentiert Wehrjurist Sohm, wenn er konstatiert, dass "die Streitkräfte von vornherein nicht dem Ausleben individueller Freiheitsrechte dienen". Denn "durch die enge Verbundenheit mit dem Dienst stellt sich der Soldat unter die Gesetzlichkeiten des Amtes". Daher habe sich der Soldat von eigenen Interessen zu distanzieren. Im Klartext: Wer seinen Dienst bei der Bundeswehr leistet, muss wissen, worauf er sich eingelassen hat, und sollte besser sein Gewissen am Kasernentor abgeben!
Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht noch ein weiteres verteidigungsministerielles Elaborat. In dem von der Rechtsabteilung I 5 unter dem Titel Hinweise für Rechtsberater und Rechtslehrer herausgegebenen Dokument wird im Hinblick auf den "Umgang mit Soldaten und Soldatinnen, die aus Gewissensgründen Befehle nicht befolgen wollen", ausgeführt: "Dies ergibt sich aus dem Berufsrisiko, das Soldaten/Soldatinnen auf Zeit und Berufssoldaten/Berufssoldatinnen freiwillig eingehen. Insofern werden den Angehörigen der Streitkräfte engere Grenzen gezogen als den normalen Staatsbürgern und Staatsbürgerinnen." Gewissen als soldatisches Berufsrisiko - auch dies eine dreiste Umkehrung des glasklaren Bundesverwaltungsgerichtsurteils. Eigentlich wäre das teils ausgesprochen stümperhaft abgefasste Ministerialpapier nicht weiter erwähnenswert, gleichwohl kann man darüber nicht stillschweigend hinweggehen, da es eine offizielle Handlungsanleitung für den Dienst in der Bundeswehr darstellt.
Geradezu atemberaubend sind schlussendlich die Einlassungen der Rechtsabteilung zum Thema Angriffskrieg. Dieser wird zwar vom Grundgesetz verboten, dennoch darf sich laut Verteidigungsministerium der gemeine Soldat darauf nicht berufen, denn "diesem Verbot unterfallen nur Soldaten oder Soldatinnen, die als sicherheits- und militärpolitische Berater/Beraterinnen eine herausgehobene Funktion im Regierungsapparat ausüben." Auf den Punkt gebracht lautet der Irrwitz: Dem General ist der Angriffskrieg verboten, der Gefreite aber muss mitmachen.
Zur Groteske wird die Argumentation der Ministerialjuristen, wenn diese einerseits konstatieren, "Befehle, die im Widerspruch zu den allgemeinen Regeln des Völkerrechts stehen, sind unverbindlich", und "Untergebene dürfen solche nicht befolgen", sondern "müssen die allgemeinen Regeln des Völkerrecht beachten". Dieselben Autoren geben wenige Zeilen später zum Besten, dass "zwar das allgemeine Gewaltverbot zu den allgemeinen Regeln des Völkerrechts gehört, dieses jedoch für die rechtliche Bewertung des Verhaltens einzelner an einem Einsatz beteiligter Soldaten und Soldatinnen ebenso wenig von Bedeutung ist wie die zu seiner Durchsetzung bestimmten innerstaatlichen Normen (Art. 26 GG und § 80 StGB)".
Unbekannt scheint den Rechtsexperten der Verhaltenskodex zu politisch-militärischen Aspekten der Sicherheit, der auf dem Budapester KSZE-Gipfel 1994 unterschrieben wurde. Dort besagen die Paragrafen 30 und 31, "dass die Angehörigen der Streitkräfte nach dem innerstaatlichen und dem Völkerrecht für ihre Handlungen individuell verantwortlich sind" und "dass die mit Befehlsgewalt ausgestatteten Angehörigen der Streitkräfte Befehle, die gegen das innerstaatliche Recht und das Völkerrecht verstoßen, nicht erteilen dürfen".
Wenn verantwortliche Juristen im Verteidigungsministerium ungeachtet dessen völlig abwegige Rechtsauffassungen konstruieren und ein Urteil des höchsten Bundesgerichts am Rande der Rechtsbeugung kommentieren, legt das die Frage nahe, inwieweit sich die Leitung des Ministeriums überhaupt noch an Recht und Gesetz dieser Republik gebunden fühlt.
Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen.
Auslandseinsätze der Bundeswehr (Stand: 20. August 2006)
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