High-Tech-Krieger mit Kälberstrick

Der Soldatentyp von Abu Ghraib Spiegelbild des Ausbildungssystems in der US-Armee und einer habituell gewalttätigen Nation

"Ich führe meine Befehle aus. Dafür ist die Armee da. Wenn die Amerikaner sagen: ›Löscht Südamerika aus‹, wird es die Army tun. Wenn eine Mehrheit sagt, Lieutenant, los, massakrieren Sie tausend Feinde, werde ich tausend Feinde massakrieren."
US-Lieutenant William Calley Jr. (1970)

Wounded Knee, South Dakota, 29. Dezember 1890: Soldaten der 7th U.S. Cavalry erschießen etwa 300 indianische Männer, Frauen und Kinder vom Stamm der Sioux, die sich ihnen zuvor ergeben und ihre Waffen abgeliefert hatten.

Hiroshima, 6. August 1945: US-Bomberpilot Colonel Paul Tibbets verwandelt mit dem ersten Kernwaffeneinsatz in der Geschichte der Menschheit die japanische Großstadt in eine atomare Wüste, schätzungsweise 120.000 Einwohner sterben unmittelbar nach dem Abwurf, weitere 80.000 nach qualvollem Siechtum.

My Lai 4, Südvietnam, 16. März 1968: US-Soldaten der Task Force Barker unter dem Kommando des Lieutenants William Calley (s. oben) schänden, verstümmeln und ermorden 507 Zivilisten, darunter 173 Kinder, 76 Babys und 60 Greise.

Kuwait, 23./24. Februar 1991: Drei Brigaden der 1. US-Infanteriedivision verschütten und begraben mit gepanzerten Planierraupen, die mit Räumschilden ausgerüstet sind, 6.000 irakische Soldaten bei lebendigem Leibe in ihrem mehr als 70 Meilen langen Schützengrabensystem - eine zweite Bulldozerwelle schüttet die Gräben mit Sand zu.

Falluja im Irak, 10. bis 15. April 2004: Die US-Besatzungstruppen begehen die schwersten Kriegsverbrechen, seit sie das Land besetzt halten. Als mit Luftangriffen versucht wird, gegen kämpfende Einheiten des sunnitischen Widerstandes vorzugehen, kommen in Falluja etwa 600 Menschen ums Leben, darunter viele Frauen und Kinder.

Die vorstehende, keineswegs vollständige Aufzählung dokumentiert, wie Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Geschichte der US-Streitkräfte keine Ausnahme sind. Die These, US-Militärs hätten stets ehrenhaft und unter Beachtung (kriegs-)völkerrechtlicher Konventionen wie zivilisatorischer Mindeststandards gekämpft, dient der Legendenbildung. Wenn Madeleine Albright - Außenministerin in der Zeit der Clinton-Administration - angesichts der Kälberstricke, an denen Gefangene durch die Flure des Abu Ghraib-Gefängnisses geschleift werden, beschwörend deklamiert, dies sei "unamerikanisch, total unamerikanisch!", zeugt das von grotesker Realitätsverleugnung.

Eher scheint das Gegenteil der Fall: Archaische Rohheit bestimmt den Umgang mit einem Gegner, der häufig - besonders wenn er nicht der weißen Rasse angehört - zum Monster und damit zum entmenschlichten Feind erklärt wird. In den Folterungen erfüllt sich eine auf Instinkt und Hysterie abhebende propagandistische Begleitmusik der Kriege, wie sie Amerika zuletzt geführt hat. Darüber hinaus lassen die Exzesse - ob nun in Abu Ghraib oder Guantanamo - etwas vom Wesenskern einer Gesellschaft durchschimmern, in der die Hemmschwelle für die Anwendung von Gewalt nicht übermäßig hoch ist.

Das US-Militär ist gewissermaßen ein Spiegelbild einer habituell gewalttätigen Nation. Der in Abu Ghraib zutage getretene Soldaten- Typus stellt insofern keineswegs ein, wie Donald Rumsfeld behauptet, bedauerliches Einzelphänomen dar - er verkörpert vielmehr die Konsequenz eines Ausbildungssystems in der US-Armee, das darauf ausgerichtet ist, Menschen in Kampfmaschinen zu verwandeln. Der militärische Sozialisationsprozess beginnt damit, die Persönlichkeit des Soldaten zu zerbrechen und von dem zu entfernen, was den zivilisierten Normalbürger ausmacht. Aus der zertrümmerten Individualität wird hernach ein für den Kampfzweck brauchbarer Charakter geformt. Dessen Aufgabe benennt Captain McKenzie vom U.S. Marine Corps so: "Wir müssen so effizient wie möglich töten, wann immer es erforderlich wird." McKenzie weiter: "Ein Offizier, der mit dieser Grundwahrheit unseres Berufes nicht zurechtkommt, ist fehl am Platz." In der Tat beweisen die US-Streitkräfte seit mehr als einem Jahr im Irak, wie sie dieses Prinzip in die Realität umzusetzen verstehen.

Ein diametral entgegengesetztes Soldatenbild wurde übrigens der Bundeswehr bei ihrer Neugründung von der Politik verordnet - vor allem aufgrund der katastrophalen Erfahrungen mit dem deutschen Militär vergangener Zeiten. Der "Staatsbürger in Uniform" verkörperte ein neues Leitbild - er war dazu verpflichtet, in jeder Lage das Menschen- und (Kriegs-)Völkerrecht strikt zu wahren. Bei bisherigen Einsätzen der Bundeswehr hat sich diese Idee weitgehend behauptet, auch wenn es für die Zukunft keine Garantie gegen eine mit jedem Militäreinsatz verbundene latente Enthumanisierung geben kann. Wenn sich aber - wie es seit geraumer Zeit geschieht - in den Reihen der Bundeswehr bis hinauf zum amtierenden Heeresinspekteur jene Stimmen mehren, die den Staatsbürger in Uniform für ein Auslaufmodell halten und gegen den Soldatentyp des "archaischen Kämpfers und High-Tech-Kriegers" austauschen wollen, dann steht heute mehr denn je außer Zweifel, wohin ein solcher Weg führen kann: Geradewegs in die Abgründe von Abu Ghraib.

Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen.


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