Hohelied auf den archaischen Kämpfer

Der "Staatsbürger in Uniform" hat ausgedient Wie der Inspekteur des deutschen Heeres die Streitkräfte herrlichen Zeiten entgegen führt

Wir schreiben den März 1969. Vor den im Moltke-Saal der Führungsakademie der Bundeswehr versammelten Offizieren fordert der stellvertretende Inspekteur des deutschen Heeres, Generalmajor Hellmut Grashey, die Bundeswehr müsse die Rolle eines "Ordnungsfaktors" in der Gesellschaft wahrnehmen. Ein Jahr zuvor hatten mit dem gleichen Anspruch die Obristen in Athen die Macht an sich gerissen und den NATO-Staat Griechenland in eine Militärdiktatur verwandelt. In den Augen Grasheys trägt die "Innere Führung" die Hauptschuld an der - wie er beklagt - "inneren Not der Streitkräfte". Ohnehin nur als Konzession an die Sozialdemokraten eingeführt, müsse die Bundeswehr, so Grashey, "diese Maske nun endlich ablegen, die wir uns damals vorgehalten haben".

Wie sich die Zeiten gleichen: In der Welt am Sonntag vom 29. Februar 2004 wird Generalmajor Hans-Otto Budde, soeben von Verteidigungsminister Struck zum Heeresinspekteur ernannt, mit den Worten zitiert: "Wir brauchen den archaischen Kämpfer und den, der den High-Tech-Krieg führen kann." Was der General damit meint, verdeutlicht unverblümt sein Kampfgefährte aus gemeinsamen Fallschirmjägertagen. Kongenial ergänzt der: "Diesen Typus müssen wir uns wohl vorstellen als einen Kolonialkrieger, der fern der Heimat bei dieser Existenz in Gefahr steht, nach eigenen Gesetzen zu handeln." Denn: "Eine ›neue Zeit‹ in der Militärstrategie und Taktik verlangt natürlich einen Soldatentypen sui generis: Der ›Staatsbürger in Uniform‹ ... hat ausgedient."

Ob solcher Gelehrigkeit eines Nachfolgers im Geiste würde General Grashey wohl vor Freude in seinem Grab rotieren, während die Traditionalisten-Kamarilla in der Bundeswehr stehend Beifall klatscht.

Die ganze Tragweite des nur als skandalös zu bezeichnenden Vorfalls erschließt sich erst, wenn man berücksichtigt, dass dem Leitbild vom Soldaten als "Staatsbürger in Uniform" im Rahmen der "Inneren Führung" eine zentrale Bedeutung zukommt. Die "Innere Führung" bildet gleichsam das "Grundgesetz" für die Bundeswehr als militärischer Macht innerhalb der demokratisch verfassten Bundesrepublik Deutschland. Wer also den "Staatsbürger in Uniform" als obsolet bezeichnet und der "Inneren Führung" das Fundament entzieht, beschädigt massiv die Reputation der Bundeswehr als einer dem demokratischen Staat loyal dienenden Institution - der setzt nichts weniger aufs Spiel als die Integration der Streitkräfte in eine pluralistische Gesellschaft. Das Hohelied auf archaisches Kämpfertum steht in diametralem Gegensatz zu dem, was der Spiritus rector der "Inneren Führung", Wolf Graf von Baudissin, verfolgte. Dem General ging es um die Zivilisierung des Militärs oder - wie er einst formulierte - die "Entmilitarisierung des soldatischen Selbstverständnisses".

Gründlich verschüttete Reformen

Die Konzeption der "Inneren Führung" muss drei entscheidende Problemfelder abdecken - das innermilitärische, das binnengesellschaftliche sowie das internationale. Was zunächst das Militär selbst betrifft, garantiert "Innere Führung" dem zivilen Bürger im militärischen Dienst seine ihm qua Verfassung verbrieften grundlegenden Menschen- und Bürgerrechte, die er ja im Ernstfall unter Einsatz seines Lebens verteidigen soll - angesichts der Funktionsimperative in der tendenziell "totalen Institution" einer Armee eine gewagte, ja revolutionäre Idee. Schließlich will "Innere Führung" die Unterdrückung menschlicher Individualität überwinden, wie sie in einem auf der strikten Geltung von Befehl und Gehorsam basierenden, hierarchischen System besteht. Zugleich soll durch das Leitbild vom urteilsfähigen und zivilcouragierten Staatsbürger in Uniform ein tradierter Untertanengeist ein für allemal verschwinden.

Zum zweiten definiert "Innere Führung" ein grundlegend neues Verhältnis von Militär und Gesellschaft. Das deutsche Militär vergangener Zeiten war von einer elitär-korporativen Gesinnung geprägt, die das Raster vom "Staat im Staate" bediente. Das Revolutionäre, wie es sich stattdessen mit dem Ansatz des Generals von Baudissin verband, bestand in der Idee von einem demokratietauglichen Militär in einer demokratischen Gesellschaft. Damit sollte einer gesellschaftlichen Selbstisolation respektive Isolation der Streitkräfte entgegengewirkt werden.

Schließlich vermied Graf Baudissin, der nicht nur General, sondern auch Professor für Friedens- und Konfliktforschung war, in seinen Überlegungen zu Struktur und Verfasstheit einer neuen deutschen Armee jegliche Reduktion auf eine ausschließlich nationale Dimension. Er sah die Bundeswehr stets als Teil einer europäischen Sicherheitsarchitektur. Insofern folgte das Prinzip der "Inneren Führung" dem Axiom, dass im Nuklearzeitalter nicht mehr der Krieg, sondern der Frieden der Ernstfall ist und der Soldat zuallererst für den Erhalt des Friedens einzutreten hat. Denn Krieg kann nicht mehr als Mittel der Politik gelten, wenn er die Existenz der Menschheit zu vernichten droht. Es kommt unter diesen Umständen folglich allein auf die Friedenstauglichkeit des Militärs an.

An dieser Erkenntnis führt auch unter den Bedingungen eines neuartigen Risikospektrums nach dem Ende des Kalten Krieges kein Weg vorbei. Den militärischen Sieg gegen den internationalen Terrorismus erringen und die Proliferation von Massenvernichtungswaffen mittels Präventivkriegsstrategien eindämmen zu wollen, stellt eine tödliche Illusion dar.

Leider sind die revolutionär zu nennenden Ansätze der Militärreform Baudissins in den vergangenen Jahrzehnten gründlich verschüttet worden. Den Traditionalisten, die von Anfang an die neuen Streitkräfte als "optimierte Wehrmacht" planten, ist es gelungen, die "Innere Führung" auf ein Führungs- und Motivationskonzept - die reine Sozialtechnik - zu reduzieren.

In Tuchfühlung mit dem Verfassungsbruch

Die Lage heute erinnert an die späten sechziger Jahre. Nur vollzieht sich der Wandel geräuschloser und von der Öffentlichkeit fast unbemerkt, wie eine seit Jahren zu beobachtende Symbiose von politischem Desinteresse und militärischer Ignoranz zeigt.

Unter der Devise "Kampfmotivation" haben die politische und militärische Führung seit den achtziger Jahren in bewusster Abgrenzung vom gesellschaftlichen Wertepluralismus ein traditionell geprägtes, Wehrmacht inspiriertes Selbstverständnis durchgesetzt. Ihren vorläufigen Kulminationspunkt fand diese Gegenreform in einem "neotraditionalistischen Kämpfer-Kult", der die Kriegstüchtigkeit der Bundeswehr als Maß aller Dinge definiert. Die Vorstellung vom Soldaten als einem kriegsnah ausgebildeten, selbstlos dienenden und unbedingt gehorchenden Kämpfertypen wurde zur Norm erhoben und damit der ursprüngliche Gehalt der "Inneren Führung" völlig deformiert, ja partiell in sein Gegenteil verkehrt. Dies war möglich, weil Regierung und Parlament ihrer Verantwortung nicht gerecht wurden, auf Liberalität und Pluralität in den Streitkräften zu achten. Konsequenz: Die Bundeswehr verliert ihren demokratienotwendigen, zivilgesellschaftlichen Integrationsbezug.

Parallel dazu wurde unter dem Vorwand, dass Verfassungspatriotismus und rationales Wertebewusstsein nicht ausreichten, um den Sinn soldatischen Dienens zu vermitteln, der "Inneren Führung" ein konservativ-reaktionäres Erziehungskonzept entgegengesetzt, das auf mutmaßlich allgemein gültige soldatische Tugenden verweist, die militärische Gemeinschaft verherrlicht, die Erziehung zu formaler Disziplin betont und die Liebe zum Vaterland ins Zentrum der Sinnvermittlung stellt.

So haben in dem seit Bestehen der Bundeswehr existierenden Konflikt zwischen "Reformern" und "Traditionalisten" letztere erheblich an Boden gewonnen. Dies zeigt sich nicht zuletzt in einer weitgehenden Entintellektualisierung der Streitkräfte, am desolaten Zustand der politischen Bildung, am ständig sinkenden Anteil von Berufsoffizieren mit Universitätsabschluss - dies gilt sowohl für den Truppen- wie auch den Generalstabsdienst. Insgesamt ist im Offiziers-, aber auch im Unteroffizierkorps ein bemerkenswerter Mangel an staatsbürgerlicher Allgemeinbildung und politischer Urteilskraft festzustellen.

Das Leitbild vom kritisch mitdenkenden Staatsbürger in Uniform ist weitgehend vom technokratisch agierenden Offiziersfunktionär ersetzt worden. Anstatt Verfassungspatriotismus und den Mut zur offenen Debatte zu fördern, wird einem falsch verstandenen Primat der Politik, einem rein personalen Loyalitätsverständnis und einem rigiden Korpsgeist gehuldigt. An die Stelle von aufrechtem Gang und Zivilcourage sind Stromlinienförmigkeit und Karrierismus getreten.

Auch wurde von den verantwortlichen Verteidigungspolitikern bis dato ignoriert, dass angesichts einer Integration der Bundeswehr in multinationale Strukturen eine Verankerung des Reformkonzepts der "Inneren Führung" in einer angestrebten Europäischen Verteidigungsunion unabdingbar ist.

Die mangelnde Umsetzung dieses epochalen Konzepts ist evident und zugleich besorgniserregend. Die eingangs inkriminierten Einlassungen des Heeresinspekteurs legen davon beredt Zeugnis ab. Besäße der Verteidigungsminister eine über Sonntagsreden hinausreichende Sensibilität für die Relevanz "Innerer Führung" und ein Gespür dafür, was im Hinblick auf die innere Verfassung der Armee auf dem Spiele steht, er würde nicht zögern, im Fall Budde das zu tun, was einer seiner sozialdemokratischen Vorgänger im Amte, Helmut Schmidt, mit dem unseligen Grashey tat: nämlich ihn in den vorzeitigen Ruhestand zu verbannen.

Indes steht solches von der Bundesregierung nicht zu erwarten. Wer selbst qua direkter und indirekter Beteiligung an völkerrechtswidrigen Kriegen bereits des öfteren am "Abgrund des Verfassungsbruchs" (Deiseroth) stand und diese Grenze, was den Geist der Verfassung angeht, längst überschritten hat, von dem steht kaum zu erwarten, dass er einschreitet, wenn einer der höchsten Befehlshaber die Verfassungsgrundlage der Bundeswehr unterminiert. Der Volksmund liefert hierfür kurz und prägnant das Motto: "Wie der Herr, so´s Gescherr". Derweil lacht sich das Lodenmantel-Geschwader der Traditionalisten, wo sich die alten Kameraden im Geiste eines Karst, Schnez, Grashey, Schultze-Rhonhof, Uhle-Wettler, Günzel, Gudera et. al. formieren, ins Fäustchen. Eine Armee, geführt von solchen Generälen, braucht wahrlich keine Feinde mehr.

Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen.


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